Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Titel: Das kalte Jahr: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Ehrlich
Vom Netzwerk:
meinem Kopf und unter meinen Füßen, es war ein eigenwilliges Leben in den Wänden, mit dem keine Verständigung möglich war.
    Ich fand mich wieder in dem schmalen, ringsum plakatierten Flur der Hafenkneipe, der nun aber an allen Seiten aus Wänden bestand, ohne Durchgang in den Gastraum und ohne die schwere Holztür auf die Promenade mit dem kleinen Fenster. Es war überhaupt kein Fenster mehr in diesem Raum, keine Öffnung, eine kleine Zelle, aus allen Richtungen schauten die gedruckten Augen in den Raum, sie waren aber noch immer nicht bedrohlich, eher vertraut, auf eine unerklärliche Art, und bevor ich mich versah, befand ich mich auch schon auf einer ausgedehnten Konzertreise mit dem geheimnisvollen Trompeter in allen Ländern der Erde, er spielte Solokonzerte vor ausverkauftem Haus in der Berwaldhalle in Stockholm, dem Auditorium Building in Chicago, dem Megaro Musikis, der Salle Pleyel, der Myu¯za Kawasaki Symphonic Hall, dem Gewandhaus Leipzig, der Tonhalle Zürich, dem Auditório Ibirapuera, dem Gasteig in München, dem Sportpalast Kiew, und ich war ihm als enger Vertrauter unersetzlich, wartete bei den Konzerten hinter der Bühne, auf den Emporen, in den Kabinen der Tontechniker oder lief durch die leeren Gebäude, die Vorräume und Eingangshallen, die von einer umfassenden Stille erfüllt waren.
    Immer wartete ich auf ihn, auf den Moment, wenn sich das Publikum endlich müdegeklatscht hatte und die Saalbeleuchtung aufgedreht wurde, wenn er von der Bühne kam und zu keiner weiteren Zugabe mehr rausmusste, aber jedes Mal belud sich die Luft gleich wieder mit großer Spannung, begann schon das nächste Konzert vor frischen Gästen. Ich wusste, dass für mich ein Geheimnis, ein Schatz oder ein Hinweis gehütet wurde und dass es sich lohnte, auch dieses Konzert noch abzuwarten. Was es schließlich sein sollte, konnte ich nicht sagen. Ob es vielleicht schon in der Musik selbst lag, im Kopf des Trompeters als Wissen verborgen oder versteckt in der dunklen Öffnung des goldenen Aerophons.
    Unter einer lappenartigen roten Deckenkonstruktion im Eingangsbereich, im ungenutzten Hohlraum unter einer Treppe in den oberen Rang, in einer Ecke bei den Münzschränken für Wertsachen, hinter den Jackenständern der Garderoben, im Kellerabgang zu einer unterirdischen Parkgarage, im Zwischenraum zwischen Fensterfront und Sitzbank, hinter den Heizkörpern, in den Winkeln des hinteren Bühnenraums, unter den Pressspantischen der Künstlergarderoben, stieß ich auf dunkle Stellen. Wo der Raum und das ganze Konzept des Raumes sich in Schwärze verloren. Ich sah vor mir eine weiße Ebene und einzelne, kreisrunde Flächen Dunkelheit, wie sie Druckmaschinen aufs Papier setzen, um etwas darzustellen. Diese Flächen waren keine Augen, sie schauten nicht hervor, schauten einen nicht an aus dem Nichts, aber sie waren ausgesprochene Einladungen.
    Ich hörte Baugeräusche von großer Intensität. Ein einzelnes Hämmern wurde bald stark vervielfacht, wie durch ein Echo, schwirrte und nagelte um das ganze Haus, ein riesiges Gerüst wurde errichtet, vielleicht wurde auch die Außenwand, die Türen und Fenster mit Holzlatten eingeschalt. Ich hörte Sägegeräusche und Zischen, hydraulische Maschinen bei der Arbeit, das hohe Fiepen eines Großtransporters im Rückwärtsgang und stellte mir dazu Richard vor, der einem riesigen Betonmischer Anweisungen gab, wohin auszuschütten sei. Ich hörte, wie unter mir zusätzliche Kellergeschosse ausgehoben wurden mit sandigen Spatenstichen und wie glühendes Metall behauen wurde in die richtige Form. Dieselmotoren pukkerten im Garten, wahrscheinlich, um die Flutlichtanlagen der Baustelle mit Strom zu versorgen. Die ganze Arbeit erzeugte eine unglaubliche Hitze, in deren Zentrum ich unter den Decken auf der Couch lag und hoffte, man würde mich nicht vergessen und fluchtweglos einarbeiten in dieses neue Bauwerk.
    Es herrschte eine umfassende Disziplin, ich hörte Rufe ohne Befehlston, kein Fluchen, große Konzentration unter den Arbeitern, ein Bewusstsein, dass sie etwas Monumentales errichteten, etwas Ewiges, weithin Sichtbares vom Land aus und vom Meer.
    Und mitten unter dieser schwerlastigen Arbeit, als ihr zentrales Nervensystem, ihren Bauherrn, sah ich Richard sitzen mit den feinsten Schraubenziehern aus Letteraus Werkstatt, die geöffneten Pappschachteln um sich ausgebreitet, mit ungeheurer Präzision an seinen Werkstücken arbeiten, alles zusammenfügen, was ich nicht begreifen konnte mit

Weitere Kostenlose Bücher