Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
Erbgut sichtbar entfalten könnte.
Ich holte Richard auf Höhe von Helbigs Grundstück wieder ein. Er ließ mir gar keine Gelegenheit, an seinem Blick zu überprüfen, was er dachte, sondern ging direkt in die Einfahrt hinein, ohne sich nach mir umzusehen. Ich trottete ihm hinterher, auf die Abdrücke seiner kleinen Stiefel tretend, bis zur Haustür, wo er sofort auf die Klingel drückte, obwohl ich doch vielleicht gern etwas wie einen Plan oder eine Strategie besprochen hätte.
Ich fühlte mich auf eine generelle Art unvorbereitet, als Helbig die Tür öffnete und uns freundlich begrüßte. Ich versuchte mein Überrumpeltsein zu verbergen, indem ich Richard auf die Schulter fasste mit einem festen Griff, aus dem er sich gleich herauswand und wieder voranging, ins Haus, in die Werkstatt, in der die Glut im Ofen strahlte, der Holzgeruch im Raum stand und wo Helbig offenbar gerade an einem alten Bauernschrank und einer dunkel gebeizten Eckbank gearbeitet hatte. Die Bank stand mit der Rückseite zu uns, helle Schnittkanten waren im Holz zu sehen an den Stellen, die gewöhnlich an die Wand gerückt waren.
Unser Gespräch kam nur schwer in Gang. Zuerst wurde uns von Helbig Tee angeboten, wir wollten beide lieber Kaffee trinken, die Mäntel behielten wir wieder an, obwohl es diesmal angenehm warm war in seinem Haus. Dann wischten Richard und ich den Holzstaub von den Sitzflächen zweier Stühle, wurden aber gebeten, uns da nicht hinzusetzen, weil es sich um Reparaturarbeiten handelte, worauf wir uns Stühle aus der Küche holten, ich wollte nochmal zurückgehen, um auch einen Stuhl für Helbig zu bringen, der sagte aber nein, danke, ich stehe lieber, weshalb dann auch Richard lieber stehenblieb, ich mich aber setzte, was mir nach kurzer Zeit sehr unangenehm wurde, ich also wieder aufstand und überlegte, ob ich jetzt meinen Stuhl zurück in die Küche tragen sollte oder hier in der Werkstatt lassen, und dann stand ich eine Weile einfach mit meinen Armen auf die Rückenlehne aufgestützt und starrte Helbig ohne ersichtlichen Grund auf den Bauch, was er irgendwann bemerkte und an sich herunterschaute, ob da irgendetwas sei, ich sagte neinnein, nichts, ich habe nur so geschaut, Helbig und Richard sahen mich an wie einen Gestörten, und ich wünschte mir kurz, ich wäre allein irgendwo an einem wohlsortierten Ort.
Aus Verlegenheit sprach ich wieder davon, wie gut mir Helbigs Haus gefiel, das Grundstück, die Werkstatt, der Stil und der Zustand, und ich muss wohl gehofft haben, dass ich so bis an den Punkt kommen könnte, wo ich Helbig meine Unterstützung und Arbeitskraft anbieten würde.
Richard war von meinem Reden gelangweilt und Helbig nahm alles ruhig und geduldig auf, mit einer großen Bescheidenheit, als habe das mit ihm gar nichts zu tun, wie es hier aussah, als wäre ihm das alles zugefallen und unterlaufen.
Ich redete vom Garten und von der Küche, von dem Stuhl, den ich in meiner Hand hielt, und alles was ich sagte war offensichtlich, vollkommen uninteressant und wurde Helbig schließlich doch auch etwas unangenehm, weshalb er anfing, mit tief gefurchter Stirn zu nicken und einzelne Wörter der Bestätigung an meine Satzenden anzuhängen. Richard hatte einen dicken Quast gefunden, der größer war als sein Kopf und mit dem er sich jetzt immer wieder von links nach rechts übers Gesicht strich.
Beim Reden kam mir irgendwann der Gedanke, dass Helbig immer noch glaubte, Richard und ich wohnten gemeinsam mit meinen Eltern in ihrem Haus, und davon wurde ich mit einem Mal so niedergeschlagen, dass ich mitten im Satz abbrach und mich zum Ofen hin wegdrehte, wo ab und an kleine gelbe Flämmchen aus der frischen Glut hochleckten und dann wieder im orangefarbenen Leuchten verschwanden.
Helbig verhielt sich wie ein erwachsener Mensch, übernahm die Verantwortung und erzählte uns, er habe schon auch einige Ideen und Projekte gehabt, die man im Ort noch hätte realisieren können. Ich konnte mir zum Beispiel immer sehr gut vorstellen, sagte er, eines der Häuser an der Promenade wieder richtig herzurichten. Ein Restaurant vielleicht, das wollte ich immer schon mal machen. Oder man könnte sich endlich einmal diesen alten Turm am Hafen schnappen und ihn öffnen für die Bewohner, ihn innen ordentlich ausbauen, vielleicht mit ein paar Münzfernrohren oder so.
Ich schaute rüber zu Richard, und Richard schaute zu mir zurück, und beide konnten wir im Gesicht des anderen die Begeisterung über diese Vorschläge deutlich
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