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Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Titel: Das kalte Jahr: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Ehrlich
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Verdacht, dass Richard plante, mich auf lange Frist durch Helbig zu ersetzten, und ich dachte, ich könnte dem vorbeugen, indem ich uns alle etwas näher brachte.
    Unsere Spaziergänge führten uns über die Straße meiner Eltern und schließlich auch wieder über das Wohngebiet hinaus, bis an die Promenade, wo ich von jetzt an immer in meinen Mantelkragen eingebuckelt ging, nicht aufschaute, wenn uns Menschen entgegen kamen und versuchte, den Küstenteil, an dem sich Letteraus Elektrofachmarkt befindet, weitestgehend zu meiden. Sobald ich den Strand sehen konnte, drehte ich meinen ganzen Körper sofort nach links ab, in Richtung Hafen und Wachturm, in Richtung der Kneipe, die tagsüber verschlossen war und wirkte, als habe hier seit Jahrzehnten niemand mehr ausgeschenkt. Manchmal stellte ich mir vor, wie Letterau täglich ein paar Mal vor seinem Laden den Fußweg auf und ab schaut und sich vielleicht sogar Sorgen macht um mich, und dann spürte ich auch gleich seinen enttäuschten Blick in meinem abgekehrten Rücken. Ich glaube aber, dass ich mir das eingebildet habe.
    Als ich der Meinung bin, dass es jetzt soweit ist, gehen Richard und ich die Promenade hinunter, über die Hauptstraße und anders als beim ersten Mal ist es meine volle Absicht, mein Vorhaben und mein erklärtes Ziel, dass wir auf der anderen Straßenseite ins Gereute einbiegen, in die Straße von Willy Helbig und dass wir schauen werden, ob in der Werkstatt Licht brennt, wovon ich ausgehe.
    Ein kurzer Blickkontakt mit Richard müsste dann genügen um herauszufinden, ob er nochmal mit mir hineingehen würde. So weit war auf das Verständnis zwischen uns noch zu vertrauen.
    Schon lange bevor das Lagergebäude mit der Aufschrift an der Straßenseite des Grundstücks auftaucht, hat Richard bemerkt, was los ist. Er bleibt kurz stehen und schaut zu mir hoch mit zusammengekniffenen Augen. Dann verfällt er in einen hopsenden Schritt und läuft ein Stück weit voraus. Gelegentlich boxt er mit seiner behandschuhten Faust gegen eine Zaunlatte und schaut dem aufstiebenden Schnee dabei zu, wie er hinunterrieselt in den Garten dahinter.
    Ich frage ihn nicht, ob er einverstanden ist. Er würde einfach nach Hause gehen, wenn er wollte. Davon ging ich aus.
    Ich hatte wahrscheinlich auf meine Füße geschaut oder auf die Fußspuren von Richard oder einem anderen Bewohner des Ortes, vielleicht hatte ich auch einfach vorsorglich meinen Kopf hängen lassen, falls alles nicht so laufen würde, wie ich mir das vorstellte. Dass ich aber das kleine Ding überhaupt gesehen habe, kommt mir im Nachhinein sehr unwahrscheinlich vor.
    Ich blieb augenblicklich stehen, zeigte mit meinem Finger darauf, eine heiße Welle schlug durch mich hindurch, in meinem Kopf gab es erstmal keine Worte, ich dachte nicht in Form von Sprache, sondern in purer, heller Aufregung. Ich sah nur was ich sah, und ich konnte es nicht glauben. Ich hörte mich selbst laut Richards Namen die Straße hinunterrufen, er hatte sich schon ein Stück weit entfernt und kam jetzt zurück mit einem sehr skeptischen Ausdruck im Gesicht, stellte sich neben mich und warf einen kurzen, irgendwie gelangweilten Blick in die Richtung, in die mein ausgestreckter Finger noch immer zeigte.
    Ein kleiner, hellgrüner Spross hatte sich am Rand des Fußwegs durch den Schnee und hoch an die Luft gestoßen. Am unteren Ende, wo er in den Boden überging, war der Stängel weißlich gefärbt, ging aber, je näher er den beiden im Auffalten begriffenen Blättern der Knospe am Kopfende kam, in ein kräftiges, gesundes, helles Grün über. Ein wenig schwächlich wirkte die ganze Gestalt noch, so als könnte sie ihren schweren Kopf kaum halten oder als sei sie noch unschlüssig, in welche Richtung sie ihn schließlich ausstrecken wollte.
    Ich schaute in den Himmel, wie immer war keine Sonne zu sehen, nur der dicke, undurchdringliche graue Teppich. Woraus das kleine Gewächs die Kraft gezogen haben mochte, so weit zu uns an die Oberfläche zu kommen, war mir unerklärlich. Ich schaute Richard an, der die Hände übellaunig in die Jackentaschen stemmte, sich wegdrehte und einfach weiterging. Seine Schritte knarzten davon, mein zeigender Arm sank, und ich sah ganz deutlich, was eine Hoffnung war, die man alleine hoffte. Auf einen Schlag konnte ich in dem kleinen Trieb nur noch die traurige Wahrscheinlichkeit sehen, dass er es nie zu einer richtigen Pflanze oder einem Baum bringen würde, wo sich all die Information aus seinem reichhaltigen

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