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Das kalte Schwert

Das kalte Schwert

Titel: Das kalte Schwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Morgan
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gelegen, dass es sich um einen Wetteinsatz handelte. Sie hatten ihre Leiber und ihre Verfügbarkeit genau so eingesetzt, wie man ein Regiment auf dem Schlachtfeld einsetzte, mit genauso viel Zeremonie und Beherrschung.
    Diese Frau setzte sich nicht ein.

    Lady Quilien von Gris trug ihren bleichen und wohlgeformten Leib wie ein billiges Kleidungsstück, das sie von einer Freundin ausgeliehen und gerade in diesem Augenblick übergeworfen hatte.
    »Ihr wünschtet, mich zu sehen«, sagte sie schlicht. »Jetzt seht Ihr mich.«
    »Ich, äh …« Ringil nahm die dargebotene Hand und drückte sie sich an die Lippen, etwas Mechanisches, das er tun konnte, bis er die Sinne wieder beisammen bekam. Lady Quilien von Gris war eindeutig geistesgestört. »Vielen Dank, Mylady. Aber darf ich Euch vorschlagen, dass Ihr nicht so, ähm, offenherzig seid, wenn meine Träger für Euer Gepäck kommen?«
    »Oh, die werde ich nicht benötigen.« Quilien zog ihre Hand zurück und hob sie sich ans Gesicht. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde sie daran riechen oder an den Knöcheln lecken, aber dann besann sie sich plötzlich und ließ den Arm stattdessen an ihrer Seite herabfallen. »Ich reise mit sehr leichtem Gepäck, versteht Ihr.«
    Sie drückte sich nach wie vor das rote Flanellhandtuch mit der anderen Hand an den Kopf, als wollte sie die Blutung einer kürzlich erlittenen Kopfhautverletzung stillen. Sie lächelte ihn strahlend unter dem Tuch und dem feuchten Gewirr des Haars an, aber es lag etwas Hohles in der Art und Weise, wie sie es tat, als wäre das Lächeln eine Fähigkeit, die sie erst vor Kurzem erworben hatte. In dem unsteten Licht überkam ihn jäh der Gedanke, dass die Farbe des Handtuchs in der Tat von vergossenem Blut herrührte und dass die unangemessenen Gesten die Anzeichen eines Gehirnschaden wären, hervorgerufen durch einen brutalen Schlag auf den Schädel. Das breite, leere Lächeln blieb und blieb. Speichel glänzte auf den Zahnspitzen. Ihre Augen schienen durch ihn hindurch auf etwas anderes zu starren.

    Ringil verspürte einen kurzen Schauder von etwas, interpretierte es als Mitleid, und kehrte zu seinem ursprünglichen Urteil zurück – hier hatte er den Spross eines Adelshauses mit einem leichten Dachschaden vor sich, der zu peinlich war, um ihn daheim zu behalten oder einem der neumodischen Irrenhäuser zu überlassen, die es seit dem Krieg in Parashal gab. Ein Haus, das wohlhabend genug war, stattdessen für eine endlose Pilgerfahrt zu Schreinen weit entfernt von Gris aufzukommen, die berühmt für ihre Heilkraft waren.
    Wo immer das auch sein mochte.
    »Seid Ihr Euch völlig gewiss, dass …«
    »Ihr seid sehr freundlich, namenloser Ritter. Aber ich versichere Euch, dass alles, was ich für die Reise benötige, bei meinem Eintreffen in meiner Kabine sein wird.«
    Also hatte sie vielleicht eigene Träger. Oder bildete sich ein, welche zu haben. Oder …
    Was soll’s! Ringil, der sich zunehmend fehl am Platz vorkam, gab sich mit einem höflichen Nicken zufrieden.
    »Zur Dämmerung«, erinnerte er sie.
    »Ja. Zur Dämmerung.« Fast abwesend – ihr Interesse an ihm schien abrupt geschwunden. Sie schaute über seine Schulter und leicht nach unten. »Und jetzt, da ich sehe, dass Männer auf Euch warten, solltet Ihr vielleicht zu ihnen gehen. Es war nett, Euch kennenzulernen.«
    Sie hatte den Arm wieder ausgestreckt, die Handfläche nach oben, aber etwas war seltsam: Anscheinend hielt sie den Arm für etwas, das zu ihm gehörte und nicht zu ihr. Als er die Hand nahm und an die Lippen hob, sah sie ihn völlig überrascht an, als hätte sie keine Ahnung, warum ihre Gliedmaße sich an ihrer Seite bewegt hatten.
    Ringil setzte das starre Lächeln eines Höflings auf, ließ den
Arm los und verneigte sich. Verschwand eilig aus dem Zimmer in den Flur hinaus. Entdeckte überrascht, dass ihm die Kehle wie zugeschnürt war.
    Nicht, dass ihn Wahnsinn noch sonderlich bewegte – Hoiran wusste, er hatte während des Kriegs genügend zu Gesicht bekommen, um daran gewöhnt zu sein.
    Und in den grauen Orten war er praktisch der Schlüssel zum Überleben.
    Aber irgendwo, in irgendeinem beschissenen hinterwäldlerischen Loch, über das sie sich Herrscher dünkten, aßen und tranken und schliefen die Familienmitglieder der Quilien von Gris ohne sie unter ihrem Dach und wussten, dass sie hinaus in die Welt geschickt worden war, mit ihren verwirrten Sinnen umhertastete und sich, so gut es gehen wollte, die armselige

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