Das Kartengeheimnis
Menschen überhaupt nur möglich ist. So gesehen, war es vielleicht gar kein Wunder, daß sich aus dreiundfünfzig Spielkarten nach und nach ebenso viele Phantasiegeschöpfe herausbildeten. Aber das war nur das eine. Die Karten sollten bald auch eine wichtige Rolle in dem Kalender spielen, an den wir uns hier auf der Insel halten.“
„In dem Kalender?“
„Ja, genau. Das Jahr hat zweiundfünfzig Wochen – also eine Woche für jede Karte im Spiel.“
Ich fing an zu rechnen: „Sieben mal zweiundfünfzig“, sagte ich. „Macht 364.“
„Genau. Aber das Jahr hat 365 Tage. Den einen überzähligen Tag nennen wir Jokertag. Er gehört zu keinem Monat – und auch zu keiner Woche. Es ist ein Extratag, an dem alles möglich ist. Und jedes vierte Jahr haben wir zwei von diesen Jokertagen.“
„Raffiniert.“
„Diese zweiundfünfzig Wochen – oder ,Karten‘, wie ich sie genannt habe – verteilen sich außerdem auf dreizehn Monate, jeder zu achtundzwanzig Tagen. Denn auch dreizehn mal achtundzwanzig macht 364. Der erste Monat ist As, der letzte König. Und es vergehen vier Jahre zwischen den doppelten Jokertagen. Es beginnt mit dem Karojahr, dann kommt das Kreuzjahr, dann das Herz- und schließlich das Pikjahr. Auf diese Weise bekommt jede Karte ihre Woche und ihren Monat.“
Der alte Mann warf mir einen raschen Blick zu. Es schien, als machte ihn die Erfindung dieser sinnreichen Zeiteinteilung stolz und verlegen zugleich.
„Anfangs klingt das ein bißchen kompliziert“, sagte ich. „Aber meine Güte, ganz schön schlau ausgedacht!“
Frode nickte und sagte: „Ich mußte doch meinen Kopf zu irgendwas benutzen. Das Jahr hat außerdem vier Jahreszeiten – Karo im Frühling, Kreuz im Sommer, Herz im Herbst und Pik im Winter. Die erste Woche im Jahr ist Karo As, dann kommen alle übrigen Karos. Der Sommer beginnt mit Kreuz As, der Herbst mit Herz As. Der Winter setzt mit Pik As ein, und die letzte Woche im Jahr ist Pik König.“
„Und welche Woche haben wir jetzt?“
„Gestern war der letzte Tag der Woche Pik König, aber es war auch der letzte Tag des Monats Pik König.“
„Und heute?“
„... ist Jokertag. Oder der erste der beiden Jokertage. Er wird mit einem großen Fest begangen.“
„Seltsam.“
„Ja, lieber Landsmann. Seltsam, daß du genau da auf die Insel kommst, wo wir die Jokerkarte ausspielen – um dann ein ganz neues Jahr und eine neue Vierjahresperiode zu beginnen. Aber das ist noch nicht alles...“
Jetzt versank der alte Seemann in tiefes Nachdenken.
„Ja?“
„Die Karten sind auch in die Zeitrechnung der Insel einbezogen worden.“
„Jetzt verstehe ich nicht so recht.“
„Jede Karte hat ihre Woche und ihren Monat bekommen, damit ich die Tage des Jahres im Griff habe. Und auf diese Weise steht auch jedes einzelne Jahr im Zeichen einer Karte. Mein erstes Jahr auf der Insel erhielt den Namen Karo As. Dann folgte Karo Zwei – und danach alle anderen Karten in derselben Reihenfolge wie die zweiundfünfzig Wochen des Jahres. Aber ich habe dir ja erzählt, daß ich seit zweiundfünfzig Jahren hier auf der Insel lebe...“
„Oh...“
„Wir sind soeben mit dem Pik-König-Jahr fertig, Seemann. Und weiter habe ich nie gedacht, denn daß ich mehr als zweiundfünfzig Jahre hier auf der Insel leben würde...“
„Damit hattest du wohl nicht gerechnet?“
„Nein, kaum. Aber heute wird der Joker das Jokerjahr für eröffnet erklären. Heute nachmittag findet das große Fest statt. Pik und Herz machen die Schreinerwerkstatt schon zum Festsaal. Kreuz sammelt Früchte und Beeren, Karo bringt die Gläser in den Festsaal.“
„Soll... soll ich mit aufs Fest kommen?“
„Du bist der Ehrengast. Aber ehe wir ins Dorf gehen, muß ich dir noch etwas erzählen. Wir haben noch einige Stunden, Seemann, und diese Zeit müssen wir nutzen ...“
Er goß das braune Getränk in ein Glas aus der Glashütte. Ich nahm einen vorsichtigen Schluck, und der alte Seemann fuhrt fort: „Das Jokerfest wird also zu jedem Jahresabschluß gefeiert – oder zu Beginn eines neuen Jahres, wenn du so willst. Aber nur jedes vierte Jahr werden Patiencen gelegt ...“
„Patiencen?“
„Jedes vierte Jahr, ja. Dann wird das große Jokerspiel aufgeführt.“
„Ich fürchte, das mußt du mir genauer erklären.“
Er räusperte sich zweimal und fuhr fort: „Wie ich schon einige Male sagte, mußte ich meine Zeit ja irgendwie ausfüllen, als ich allein auf der Insel war. Manchmal blätterte ich langsam
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