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Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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Augen.
    »Wieviel ist einundneunzig mal vier?«
    »Neun mal vier ist sechsunddreißig«, sagte ich. »364! Ja, zum Kranich!«
    »Genau! Im Kartenspiel gibt es 364 Zeichen – plus Joker. Aber dann gibt es Jahre mit zwei Jokertagen. Vielleicht hat ein Spiel deshalb zwei Joker, Hans-Thomas. Das kann doch kein Zufall sein!«
    »Meinst du, die Kartenspiele sind mit Absicht so gemacht?« fragte ich. »Glaubst du, es soll ganz bewußt so sein, daß ein Spiel so viele Zeichen hat wie das Jahr Tage?«
    »Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, wir haben hier wieder ein Beispiel dafür, daß die Menschheit nicht einmal solche Zeichen zu deuten imstande ist, die offen zutage liegen. Bisher hat sich ganz einfach niemand die Mühe gemacht nachzuzählen – obwohl es viele Millionen Kartenspiele gibt.«
    Wieder versank er in Gedanken. Dann huschte ein Schatten über sein Gesicht.
    »Aber ich sehe ein ernsthaftes Problem«, sagte er. »Es wird nicht mehr leicht sein, Joker zu schnorren, wenn der Joker einen Platz im Kalender erhält.«
    Er lachte; so ernst hatte er es wohl doch nicht gemeint.
    Auch später im Auto schmunzelte er noch lange vor sich hin. Ich glaube, er dachte die ganze Zeit an den Kalender.
    Als wir uns Athen näherten, entdeckten wir plötzlich ein riesiges Straßenschild. Ich hatte es schon mehrmals gesehen, aber nun machte mein Herz bei seinem Anblick einen Sprung.
    »Halt!« rief ich. »Anhalten!«
    Vater bekam einen Riesenschreck. Er fuhr an den Straßenrand und bremste abrupt.
    »Was ist denn los?« fragte er, als er sich zu mir umdrehte.
    »Raus!« sagte ich. »Wir müssen raus aus dem Auto!«
    Vater öffnete die Autotür und sprang hinaus. »Ist dir schlecht vom Fahren?« fragte er.
    Ich zeigte auf das Schild, das nur wenige Meter vor uns stand.
    »Siehst du das Schild?« fragte ich.
    Vater war so verwirrt, daß er mir eigentlich hätte leid tun müssen, aber ich dachte nur daran, was auf dem Schild stand.
    »Ich seh’s, ja. Und was ist damit?«
    »Lies doch mal!« sagte ich.
    »atina«, las Vater und zuckte die Achseln. »Das ist griechisch und bedeutet Athen.«
    »Und sonst siehst du nichts? Lies es doch bitte mal rückwärts.«
    »Anita«, las er jetzt.
    Ich sagte nichts mehr; ich schaute nur ernsthaft zu ihm hoch und nickte.
    »Ja, das ist schon komisch«, mußte er zugeben. Erst jetzt zündete er sich eine Zigarette an. Er war so cool, daß es mich schon ärgerte.
    »Komisch? Mehr hast du nicht zu sagen? Das heißt, sie ist hier, das mußt du doch einsehen. Darum ist sie überhaupt hierhergekommen: Sie wurde von ihrem eigenen Spiegelbild angezogen. Es war ihr Schicksal , verstehst du nicht!«
    Jetzt schien zur Abwechslung er sich zu ärgern.
    »Reg dich bitte ab, Hans-Thomas!« fuhr er mich an.
    Es war klar, daß ihm das mit dem Schicksal und dem Spiegelbild nicht gefiel.
    Als wir wieder im Auto saßen, sagte er: »Manchmal gehst du mir wirklich ein bißchen zu weit mit deiner... deiner Phantasie!«
    Er dachte dabei wohl nicht nur an das Schild. Er dachte sicher auch an Zwerge, die uns verfolgten, und seltsame Kalender. Und wenn es so war, dann fand ich das ungerecht. Ich fand, er war der letzte, der anderen ihre Phantasie vorwerfen durfte. Ich hatte schließlich nicht mit dem Gerede über Sippenflüche angefangen.
    Auf dem Rest der Fahrt nach Athen las ich, wie auf der magischen Insel das Jokerfest vorbereitet wurde.

KARO VIER
    ... ihr Händchen war kalt wie der Morgentau...
     
     
     
    Mir war auf der magischen Insel mein eigener Großvater begegnet, denn ich war der Sohn des ungeborenen Kindes, das er in Lübeck zurückgelassen hatte, als er zu seiner schicksalhaften letzten Fahrt aufgebrochen war.
    Was war wohl das Seltsamste an der Geschichte? Daß ein kleiner Samen wachsen und wachsen und schließlich zu einem lebendigen Menschen unter dem Himmel werden konnte? Oder daß ein lebendiger Mensch eine so lebhafte Phantasie haben konnte, daß seine Phantasiegeschöpfe am Ende leibhaftig auf der Welt herumliefen? Aber waren nicht auch wir Menschen solche quicklebendigen Phantasiegeschöpfe? Wer hatte uns in die Welt gebracht?
    Frode lebte seit einem halben Jahrhundert allein auf der großen Insel. Würden wir jemals zusammen nach Hause fahren können? Würde ich eines Tages in die Bäckerei meines Vaters in Lübeck spazieren, den alten Mann in meiner Begleitung vorstellen und sagen: „Hier bin ich, Vater, ich bin aus der weiten Welt heimgekehrt. Und ich habe Frode mitgebracht, deinen

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