Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
Vom Netzwerk:
durch die Karten und tat so, als ob jede einen ihr eigenen Satz aufsagte. Es war fast schon ein Sport, mir alle ihre Sätze zu merken. Und als ich endlich gelernt hatte, was jede Karte sagte, fing ein anderer Teil des Spiels an: Jetzt versuchte ich, die Karten so zu mischen, daß sich die Sätze zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügten. Oft erhielt ich dann eine Art Erzählung – die aus Sätzen bestand, die sich die Karten ganz unabhängig voneinander ausgedacht hatten.“
    „Und das war das Jokerspiel?“
    „Na ja, es war wohl erst nur eine Art Patience gegen die Einsamkeit. Aber es war auch der Anfang zu dem großen Jokerspiel, das jetzt jedes vierte Jahr am Jokertag aufgeführt wird.“
    „Erzähl!“
    „In den vier Jahren, die jeweils eine Vierjahresperiode ausmachen, soll jeder der zweiundfünfzig Zwerge sich einen Satz ausdenken. Das hört sich vielleicht nicht sehr beeindruckend an, aber vergiß nicht, daß sie ganz langsam denken. Es sind Zwerge von sehr geringem Verstand.“
    „Und beim Jokerfest sagen sie ihre Sätze auf?“
    „Genau. Aber das ist nur die erste Phase des Spiels. Danach kommt der Joker an die Reihe. Er selber denkt sich keinen Satz aus, aber er sitzt auf einem Hochsitz und macht sich Notizen, während die Sätze der anderen vorgetragen werden. Im Laufe des Jokerfestes verändert er dann die Reihenfolge, bis die Sätze ein sinnvolles Ganzes bilden: Er stellt die Zwerge in der richtigen Reihenfolge auf, und sie wiederholen ihre Sätze, aber jetzt macht jeder Satz einen winzigen Teil eines großen Märchens aus.“
    „Schlaue Idee“, sagte ich.
    „Ja, schlau schon, aber es kann dabei auch zu schönen Überraschungen kommen.“
    „Wie meinst du das?“
    „Man sollte denken, daß es allein der Joker ist, der das sinnvolle Ganze aus etwas schafft, was zuvor das reine Chaos war, denn die Figuren haben sich ihre Sätze ja ganz unabhängig voneinander ausgedacht.“
    „Aber?“
    „Aber manchmal sieht es ganz so aus, als hätte das Ganze – also das Märchen oder die Geschichte – schon vorher existiert.“
    „Kann das denn sein?“
    „Das weiß ich nicht. Aber wenn es so ist, dann sind die zweiundfünfzig Zwerge in Wirklichkeit etwas ganz anderes – und noch viel mehr – als nur zweiundfünfzig Individuen. Dann werden sie von unsichtbaren Fäden zusammengehalten – denn ich habe dir noch immer nicht alles erzählt.“
    „Sprich!“
    „In meiner ersten Zeit auf der Insel versuchte ich mit den Karten auch wahrzusagen. Das war natürlich nur ein Spiel. Aber ich dachte, vielleicht ist ja etwas dran an dem, was sich die Seeleute in allen Häfen der Welt erzählen, vielleicht wissen die Karten wirklich etwas über die Zukunft. Und tatsächlich – genau an den Tagen, bevor Kreuz Bube und Herz König als erste hier auftauchten, fand ich die beiden Karten mehrmals auf den wichtigsten Plätzen in meinen Patiencen.“
    „Erstaunlich.“
    „Ich dachte nicht weiter darüber nach, als wir, nachdem alle Figuren hier eingetroffen waren, mit den Jokerspielen anfingen. Aber weißt du, was der allerletzte Satz im Märchen des letzten Jokerfestes war – also vor vier Jahren?“
    „Nein, wie sollte ich?“
    „Dann hör zu: Junger Seemann kommt ins Dorf letzter Tag Pik König. Seemann löst Rätsel mit Glasbuben. Alter Meister empfängt wichtige Nachricht aus Heimat.“
    „Das... das ist erstaunlich!“
    „Ich habe nicht vier Jahre lang über diese Worte nachgedacht. Aber als du gestern abend im Dorf aufgetaucht bist – am letzten Tag der Woche, des Monats und des Jahres Pik König –, nun, da fiel mir diese Prophezeiung wieder ein. Irgendwie wurdest du erwartet, Seemann...“
    Jetzt ging mir plötzlich etwas auf.
    „Alter Meister empfängt wichtige Nachricht aus Heimat“, wiederholte ich.
    „Ja?“ Der Blick des alten Mannes bohrte sich in meinen.
    „Sagtest du nicht, daß sie Stine hieß?“
    Der Alte nickte.
    „Und aus Lübeck war?“
    Wieder nickte er.
    „Mein Vater heißt Otto. Er ist ohne Vater aufgewachsen, und seine Mutter hieß ebenfalls Stine. Sie ist vor wenigen Jahren gestorben.“
    „Stine ist ein ziemlich häufiger Name in Norddeutschland.“
    „Natürlich... Mein Vater war ein sogenanntes uneheliches Kind, Großmutter war nie verheiratet. Sie... sie war mit einem Seemann verlobt, der auf dem Meer geblieben ist. Sie wußten beide nicht, daß sie ein Kind erwartete, als sie sich zum letzten Mal sahen... Es wurde viel darüber geredet: von einem leichtsinnigen

Weitere Kostenlose Bücher