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Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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kleinen Anhöhe.
    »Laß uns dort auch noch hingehen, Hans-Thomas«, sagte Vater. »Weißt du, für mich ist das alles hier ein bißchen das, was Mekka für einen Muslim ist. Der Unterschied ist nur, daß mein Mekka in Trümmern liegt.«
    Ich glaube fast, er hatte Angst, die Agora könnte eine Enttäuschung für ihn werden. Aber als wir den alten Marktplatz erreicht hatten und zwischen den Marmorblöcken herumkletterten, war es, als bewegte er sich im Gewimmel des alten Stadtstaates, das eigens für ihn wieder zum Leben erweckt worden war. In Wirklichkeit waren hier allerdings nicht viele Menschen unterwegs. Oben auf der Akropolis waren es Tausende von Besuchern gewesen; auf dem Marktplatz tauchte nur ab und zu ein Joker auf.
    Ich weiß noch, ich überlegte mir, daß Vater vor zweitausend Jahren schon einmal über diesen Marktplatz geschritten sein mußte, jedenfalls dann, wenn es stimmte, daß ein Mensch mehrere Leben hat. Er erzählte nämlich vom Leben im alten Athen, als könnte er sich »erinnern«, wie es damals gewesen war. Und mein Verdacht verstärkte sich noch, als er plötzlich stehenblieb, auf die vielen Ruinen zeigte und sagte: »In einem Sandkasten baut ein kleines Kind mit Sand und Wasser eine Burg. Immer baut es etwas Neues, betrachtet es einen Moment lang entzückt – und dann zerschlägt es alles wieder und spült es weg. Genauso läßt die Zeit den Erdball experimentieren. Hier auf diesem Platz wurde Weltgeschichte geschrieben, hier wurden Ereignisse ins Gedächtnis der Menschen eingraviert – und wieder getilgt. Auf dem Erdball pulsiert das Leben wie in einem Hexenkessel, und eines Tages werden auch wir selber modelliert – aus demselben zerbrechlichen Material wie unsere Vorfahren. Uns durchweht der Wind der Zeit, er trägt uns und ist wir – und dann läßt er uns einfach wieder fallen. Wir werden herbeigezaubert und wieder weggejuxt. Immer gärt etwas in der Erwartung, unseren Platz einzunehmen. Denn wir haben keinen festen Boden unter den Füßen. Wir haben nicht einmal Sand unter den Füßen. Wir sind Sand.«
    Was er sagte, ließ mich erschrocken zusammenzucken. Und nicht nur was er sagte, sondern auch wie er es sagte.
    Er fuhr fort: »Vor der Zeit können wir uns nirgendwo verstecken. Wir können uns vor Königen und Kaisern verstecken, und vielleicht auch vor Gott. Aber wir können uns nicht vor der Zeit verstecken. Die Zeit sieht uns überall, denn alles um uns herum ist in dieses rastlose Element getaucht.«
    Ich nickte ernst, aber er war erst am Anfang seines großen Vortrags über das Wüten der Zeit.
    »Die Zeit geht nicht, Hans-Thomas, und sie tickt nicht. Wir gehen, und unsere Uhren ticken. Die Zeit frißt sich so still und unerbittlich, wie die Sonne im Osten auf- und im Westen untergeht, durch die Geschichte. Sie vernichtet Zivilisationen, zernagt alte Denkmäler und verschlingt ein Menschengeschlecht nach dem anderen. Deshalb reden wir vom ›Zahn der Zeit‹. Denn die Zeit kaut und kaut – und wir stecken zwischen ihren Zähnen.«
    »Haben die alten Philosophen über solche Dinge diskutiert?« fragte ich.
    Er nickte.
    »Für eine kurze Frist sind wir Teil eines wunderbaren Gewimmels. Wir springen über die Erde, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. Du hast gesehen, wie die Leute oben auf der Akropolis wie die Ameisen herumwuseln! Aber das alles wird verschwinden. Es wird verschwinden und durch neues Gewimmel ersetzt werden. Denn immer stehen schon neue Menschen bereit. Immer tauchen neue Ideen auf. Kein Thema wird wiederholt, keine Komposition zweimal geschrieben... Nichts ist so kompliziert und so kostbar wie ein Mensch, mein Junge. Aber man behandelt uns wie billigen Tand!«
    Ich fand, was er da sagte, so pessimistisch, daß ich unbedingt eine kleine Bemerkung dazwischenschieben mußte.
    »Ist es wirklich so schlimm?« fragte ich. »Wir...«
    »Halt jetzt den Mund!« schnitt er mir das Wort ab. »Wir trippeln wie Figuren aus einem spannenden Märchen über die Erde«, fuhr er fort. »Wir nicken uns zu und lächeln uns an. Als wollten wir sagen: ›Hallo – wir leben zusammen! Wir befinden uns in derselben Wirklichkeit – oder im selben Märchen...‹ Ist das kein unglaublicher Gedanke, Hans-Thomas? Wir leben auf einem Planeten im Universum. Aber bald werden wir vom Brett gefegt werden. Hokuspokus – schon sind wir verschwunden.«
    Ich musterte ihn von der Seite. Es gab keinen Menschen, den ich besser kannte. Und auch keinen, den ich mehr liebte. Aber

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