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Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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wie er jetzt dastand und über die Marmorblöcke auf dem alten Marktplatz von Athen hinsah, hatte er etwas seltsam Fremdes an sich. War es vielleicht gar nicht mein Vater, der diese Reden führte? Hatte irgendwann Apollon oder irgendein Dämon diese Führung an sich gerissen? Ich glaube, solche Gedanken gingen mir wirklich durch den Kopf.
    »Wenn wir in einem anderen Jahrhundert leben würden«, fuhr Vater fort, »dann würden wir unser Leben mit anderen Menschen teilen. Jetzt können wir nur nicken und lächeln und Tausenden von Zeitgenossen guten Tag sagen: ›He, du! Phantastisch, daß wir gleichzeitig leben!‹ Vielleicht stupse ich irgendwann irgendwen an. Und ich öffne eine Tür und rufe hinein: ›He, Seele!‹«
    Er zeigte mit beiden Händen, wie er die Tür zur Seele aufmachte.
    »Wir leben, hörst du. Aber wir leben nur jetzt. Wir breiten die Arme aus und sagen, wir existieren. Aber wir werden beiseite gewischt und in die Finsternis der Geschichte gestopft. Denn wir sind Einweggeschöpfe. Wir sind Teil einer ewigen Maskerade, bei der die Masken kommen und gehen – aber wir hätten etwas Besseres verdient, Hans-Thomas. Du und ich hätten es verdient, unsere Namen in etwas Ewiges einzuritzen, in etwas, das nicht im großen Sandkasten weggespült wird.«
    Er setzte sich auf einen Marmorblock und holte tief Luft. Erst jetzt ging mir auf, daß er sich lange auf die Rede vorbereitet haben mußte, die dann hier, auf dem alten Marktplatz von Athen, gehalten werden sollte. Und eigentlich sprach er auch gar nicht – oder jedenfalls nicht nur – zu mir. Er sprach zu den großen griechischen Philosophen. Die Rede meines Vaters war in eine ferne Vergangenheit gerichtet.
    Was mich betraf, so war ich zwar noch kein fertiger Philosoph, aber eine Meinung glaubte ich doch schon haben zu dürfen. Deshalb fragte ich: »Glaubst du, es gibt etwas, das nicht im großen Sandkasten weggespült wird?«
    Erst jetzt sprach er wirklich ganz und ausschließlich zu mir; ich glaube, ich hatte ihn mit meiner Frage aus einer Art Trance gerissen.
    »Hier« , sagte er und zeigte auf seinen Kopf. »Hier gibt es etwas, das nicht weggespült wird.«
    Einen Moment lang hatte ich Angst, er könnte größenwahnsinnig geworden sein, aber er zeigte nicht nur auf seinen eigenen Kopf.
    »Der Gedanke schwimmt nicht, Hans-Thomas. Ich habe erst die erste Strophe gesungen, verstehst du. Die Philosophen in Athen meinten, es gibt auch etwas, das nicht verrinnt. Platon nannte es die Welt der Ideen. Denn nicht die Sandburg ist das wichtigste im Sandkasten des Kindes. Das wichtigste ist das Bild einer Sandburg, die das Kind im Sinn hatte, ehe es mit dem Bauen anfing. Warum meinst du, daß das Kind sonst die Burg einhaut, sobald sie fertig ist?«
    Ich mußte zugeben, daß ich die zweite Strophe besser verstanden hatte als die erste, aber nun sagte er: »Ist es dir nie passiert, daß du etwas zeichnen oder basteln wolltest, das du einfach nicht richtig hinbekommen hast? Du versuchst es immer wieder, aber es klappt nie. Und das liegt daran, daß dein inneres Bild immer vollkommener ist als die Kopien, die du mit den Händen zu formen versuchst. So ist das mit allem, was wir um uns herum sehen. Wir tragen die Vorstellung in uns, daß alles, was wir sehen, besser sein könnte, als es ist. Und weißt du, warum wir das tun, Hans-Thomas?«
    Ich schüttelte nur den Kopf, und er war so aufgeregt, daß er nur noch flüsterte: »Weil wir alle Bilder in uns aus der Welt der Ideen mitgebracht haben. Denn dort sind wir eigentlich zu Hause, verstehst du, und nicht hier unten im Sandkasten, wo die Zeit nach allem schnappt, was wir lieben.«
    »Es gibt also eine andere Welt?«
    Vater nickte geheimnisvoll.
    »Dort war unsere Seele, ehe sie Wohnung in einem Körper bezogen hat. Und dorthin kehrt sie zurück, wenn der Körper dem Wüten der Zeit erliegt.«
    »Wirklich?«
    »Das meinte jedenfalls Platon, einer der großen griechischen Philosophen. Unsere Körper erleiden dasselbe Schicksal wie die Sandburgen in den Sandkästen, daran läßt sich nichts ändern. Aber wir haben etwas in uns, das die Zeit nicht zernagen kann. Und zwar, weil es eigentlich nicht hierher gehört. Wir müssen unsere Blicke über das Getriebe um uns hinaus richten. Wir müssen das sehen, wovon alles um uns herum nur eine Nachbildung ist.«
    Ich hatte nicht alles von dem verstanden, was er gesagt hatte, aber ich hatte verstanden, daß Philosophie etwas ganz schön Großes und mein Vater ein wirklicher

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