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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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dafür ist er dort einigermaßen sicher – sicherer jedenfalls als an der Front. «
    Mutter musterte das Foto ganz genau, dann küsste sie es. » Das ist ein herrliches Weihnachtsgeschenk. Allein zu wissen, dass er lebt, reicht mir schon. «
    » Mit ein bisschen Glück schlagen sich die Alliierten nächstes Jahr über Italien nach Deutschland durch und machen kurzen Prozess mit den Nazis « , sagte Gwen und bekam endlich den Korken der Steckrübenweinflasche auf, mit dem sie die ganze Zeit gekämpft hatte. » Dann können alle wieder nach Hause kommen. «
    Ich hörte kaum zu, denn meine Gedanken wanderten zu Stefan. Ich hatte ihn seit unserem Wochenende in dem Wohnwagen nicht mehr getroffen, nur etwa alle zwei Wochen mit ihm telefoniert. Unsere große Hoffnung war es gewesen, dass er über Weihnachten kommen konnte, aber er hatte nichts mehr davon erwähnt, und so begann ich mich wohl oder übel damit abzufinden, ihn wieder nicht zu sehen.
    Beim Abendessen stießen wir auf abwesende Freunde an, und Mutter sagte: » Auf Harold, meinen lieben Mann. « Im Raum wurde es still – zum ersten Mal seit vielen Monaten sprach sie seinen Namen aus. » Ich dachte, ich würde mich niemals von diesem Schlag erholen « , fuhr sie fort. » Dass ich immer noch da bin, verdanke ich euch Mädchen. Und ich weiß, dass er von oben zusieht und sich freut, dass wir trotz allem weitermachen und es schaffen. «
    » Auf Harold, meinen Mentor und Freund « , sagte Gwen, hob ihr Glas, und wir alle taten es ihr nach. Dann trat lastende Stille ein, die vom plötzlichen Klingeln des Telefons unterbrochen wurde. Ahnungsvoll rannte ich mit klopfendem Herzen in den Flur.
    Stefan.
    » Ich bin gerade auf dem Weg zum Zug nach London, und wenn ich ihn erwische und den Anschluss nach Westbury ebenfalls, dann wäre ich so gegen elf bei dir. Ist doch okay, oder? Ich konnte nicht früher Bescheid geben, weil sie uns gerade eben erst freigegeben haben. «
    » Natürlich ist das okay. Es ist herrlich! Und wir heben dir auch was von unserem Festessen auf. «
    » Nur wenn ihr genug habt. «
    » Wir haben Massen. Und du schläfst natürlich hier. «
    » Was sagt deine Mutter dazu? «
    » Es ist mir völlig egal – ich bin inzwischen ein großes Mädchen. Ich liebe dich. «
    » Und ich dich auch « , sagte er noch, bevor die Verbindung weg war.
    Als Stefan kurz vor Mitternacht im Kastanienhaus eintraf, hatten sich die anderen diskret zurückgezogen. Mutter und Gwen auf ihre Zimmer, und Vera war nach Hause gegangen. Er trug Zivil, hatte neben seinem kleinen braunen Koffer den Army-Seesack dabei und wirkte ziemlich erschöpft. Deshalb und zum Aufwärmen machte ich ihm erst mal einen Kakao, und dann saßen wir händchenhaltend am Küchentisch und sahen einander bloß an, genossen still die Freude, wieder zusammen zu sein. Als in der Ferne Glocken läuteten, schob ich das Fenster hoch, und ihr Klang drang jetzt laut bis in unser Haus, hallte von den Mauern der Fabrik wider.
    » Warum läutet es? « , fragte er alarmiert.
    » Es ist der erste Heiligabend seit vier Jahren, an dem die Glocken wieder läuten dürfen « , sagte ich. » Weil keine Gefahr mehr besteht, dass sie vor einer Invasion warnen müssen. Und wir müssen auch nicht mehr verdunkeln. «
    » Ob mit Glockengeläut oder ohne – mir reicht es vollkommen, wieder bei dir zu sein. « Er umarmte mich von hinten und küsste meinen Nacken. » Es ist zweieinhalb Jahre her, dass ich Westbury verlassen musste. In diesem Polizeiwagen. Erinnerst du dich? «
    Ich nickte, denn vor lauter Glück war ich unfähig zu sprechen. Eng umschlungen und uns gegenseitig Wärme spendend standen wir in der kalten Nachtluft und lauschten dem Glockengeläut. Als es vorbei war, schloss ich das Fenster und drehte mich zu ihm um.
    » Hast du mein Federmäppchen griffbereit? Das ich bei dir gelassen habe? « , fragte er.
    Ich schlich auf Zehenspitzen nach oben, um es zu holen.
    Er öffnete den Reißverschluss, holte den gelbbraunen Umschlag mit den Fotos hervor, legte ihn auf den Tisch und zog aus einem anderen Fach ein paar Fetzen blau-weißer Seide mit zwei eingewebten Quasten. » Das sind Teile meines Gebetsschals. « Ich befühlte automatisch das Gewebe: gute Qualität. » Du weißt, dass ich nicht bete. Aber wie jeder englische Junge einen Kricketschläger besitzt, hat jeder jüdische Junge einen Tallit. Mutter bestand darauf, dass ich sie mitnehme – sie sollen mich immer an meine Herkunft erinnern. «
    Zuletzt förderte er aus

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