Das Kastanienhaus
passieren würde.
» Wer war das? « , fragte Gwen und trat heraus in den Flur. Sie sah das Telegramm in meiner Hand, und ihr Gesicht wurde kalkweiß. » O Gott! Lily, nein! «
Ich versuchte zu sprechen, irgendetwas Tapferes zu sagen, aber kein Wort kam mir über die Lippen. Sie nahm den Umschlag und drehte ihn um. » Du hast ihn nicht geöffnet. «
Ich schüttelte wie betäubt den Kopf.
» Möchtest du, dass ich es tue? «
Ich nickte.
Wenn man trauert, kommt man sich vor wie ein Schlafwandler, der durch tiefen Schnee läuft. Durch eine Landschaft, die endlos und unveränderlich und eintönig ist, in der jeder Schritt schmerzt. Die Welt wird zum Schattenreich, Farben verlieren ihre Strahlkraft, Geräusche ihren Klang.
Falls ich geglaubt hatte, die Ungewissheit sei das Schlimmste gewesen, so belehrte das Telegramm mich eines Besseren. Jetzt war nicht einmal mehr die Hoffnung geblieben.
Wie ein Ertrinkender, der sich an Treibholz klammert, erlaubte ich mir manchmal die Illusion, ich würde die Tür aufmachen und ihn auf der Schwelle vorfinden, erschöpft, aber unverletzt. Und wie ich mich dann in seine Arme flüchten würde. Doch unvermeidbar schoben sich wieder die Worte aus dem Telegramm in meine Tagträume und warfen mich in die trostlose Realität zurück. Vermisst, wahrscheinlich gefallen. Nur langsam begriff ich, dass es besser war, mich nicht ständig mit unrealistischen Hoffnungen zu quälen.
Irgendwann fing ich an, meinen Kummer nicht nur zu unterdrücken, sondern sogar zu leugnen. Ich wurde zur Expertin im Verdrängen meiner Gefühle, und trotz der Proteste von Mutter und Gwen beharrte ich darauf, wieder zur Arbeit zu gehen, stürzte mich mit nie gekannter Intensität hinein. Wie ein Roboter. Die Routine ersetzte das Denken.
Außer bei Nacht. Wenn ich die Augen schloss oder mit offenen Augen in der Dunkelheit lag, erschien mir sein Gesicht. Manchmal ruhig und traurig, manchmal weinend, verstört und wütend oder vor Angst schreiend. Mögliche Szenarien seines Todes liefen vor meinem geistigen Auge ab, brutal und erbarmungslos. Er lag etwa da und hielt die Hände auf eine Bauchwunde gepresst – Vera hatte mir einmal gesagt, das seien die schlimmsten Verletzungen – oder wand sich im Schlamm eines Schützengrabens, an einem Strand oder in der Wüste, wo rotes Blut in gelben Sand sickerte. Dann wieder sah ich ihn verbrannt in einem Panzer oder durch einen Flugzeugabsturz in der Luft zerfetzt. In solchen Nächten quälte ich mich zudem damit, dass ich vermutlich in sorgloser Ungewissheit weitergelebt hatte, während er schon längst tot war. Das schlechte Gewissen versetzte mir einen Stich ins Herz.
Die nächtlichen Visionen hielten mich wach und verhinderten, dass ich wenigstens für kurze Zeit gnädiges Vergessen im Schlaf fand. Falls ich oberflächlich einnickte, träumte ich von schrecklichen Dingen und zwang mich lieber zum Aufwachen, um ihnen zu entgehen. Oder ich fühlte mich, was noch grausamer war, zurückversetzt in seine Arme, in unseren warmen, schützenden Kokon, in dem ich so glücklich war. Nur um in der mitleidlosen Realität zu erwachen und zu wissen, dass ich niemals mehr seine Haut streicheln, sein Haar riechen, seine Lippen schmecken, seine Stimme hören würde.
Ein paar Nächte später schlich ich mich an den Barschrank im Salon und trank zwei große Gläser Whisky. Am Morgen erwachte ich zwar mit einem hämmernden Schädel, stellte aber mit grimmiger Befriedigung fest, dass ich zum ersten Mal seit Wochen tief und traumlos geschlafen hatte.
Ich gewöhnte mich an diese Medizin. Eines Nachts, als ich mir einschenkte, zitterten meine Hände so sehr, dass ich das Glas fallen ließ und einen Lärm verursachte, als würde eine Fensterscheibe eingeschlagen. Ich hielt den Atem an und hoffte, dass niemand aufgewacht war, doch als ich mich auf Zehenspitzen in die Küche schlich, um eine Kehrschaufel zu holen, begegnete ich Gwen, die im Schlafanzug die Treppe herunterkam und eine Bürste wie eine Waffe vor sich hielt.
» Herrje, Lily, ich dachte, es sei ein Einbrecher. «
Ich deutete vage in die Küche. Vielleicht glaubte sie ja, ich hätte mir einen Tee oder Kakao machen wollen, aber sie ließ sich nicht täuschen. » Wieso bist du eigentlich noch unterwegs? « , fragte sie. » Du riechst wie eine Schnapsbrennerei. « Dann begann sie zu begreifen. » O Lily, verzeih mir. Wie kann ich so blöd daherreden? Ich bin ein solcher Idiot. Ich dachte, du seist so stark. Doch das bist du nicht,
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