Das Kastanienhaus
hielten uns unter der Decke eng umschlungen und versuchten den Krach zu ignorieren. Erst als das Knattern der Flak einsetzte und in der Nähe Explosionen zu hören waren, stand Stefan auf und stieg in seine Hose. » Komm, wir gehen in den Luftschutzkeller « , sagte er.
Wir zogen uns eilig an und rannten aus der inzwischen leeren Pension auf die Straße. Ein Luftschutzwart trieb die Leute zu der U-Bahn-Station ein Stück die Straße hinunter. Meine Beine waren schwer wie Blei, und er packte mich an der Hand, um mich mit sich zu ziehen. Die Bombentreffer kamen immer näher.
In dem Moment, als wir den Eingang zur U-Bahn erreichten, warf uns eine Druckwelle, ausgelöst von einer heftigen Detonation, zu Boden. Stefan schützte mich mit seinem Körper, bedeckte meinen Kopf mit seinen Armen und vergrub das Gesicht in meinem Haar. Berstendes Glas fiel auf uns herunter und erzeugte Laute, die wie klimpernde Triangeln klangen. Eine ganze Weile lag ich da und rang nach Luft.
» Lily? Alles in Ordnung mit dir? « Seine Stimme klang irgendwie gedämpft – erst später wurde mir bewusst, dass die Explosion mein Gehör beeinträchtigt hatte.
» Ich glaube schon « , sagte ich, und wir setzten uns auf. Klopften den Staub ab und sammelten die Glassplitter aus unseren Haaren und von unseren Mänteln. Durch Wolken aus Staub beobachtete ich, wie andere Leute ebenfalls aus der Deckung kamen. Niemand schien ernstlich verletzt zu sein, und die Explosionen waren verstummt. Vielleicht befanden die Bomber sich ja bereits auf dem Rückflug, denn für flächendeckende Bombardements wie vor drei Jahren war die deutsche Luftwaffe bereits zu schwach.
» Das war knapp. « Meine Stimme klang angesichts des überstandenen Schreckens zittrig.
» Bist du in Ordnung? « , fragte er erneut. » Und wie geht’s dem Baby? «
» Gut, denke ich « , sagte ich und legte die Hand auf meinen Bauch. Aber woher sollte ich das in diesem frühen Stadium wissen? Man sah ja bislang nicht einmal etwas. » Was ist mit dir? «
» Nichts Ernstes « , sagte er. Wir rappelten uns langsam auf, und als wir die Straße hinunterblickten, sahen wir die Bescherung. Die Bombe hatte dicht vor unserer Pension eingeschlagen, und aus dem Krater züngelten rote Flammen und beißender Qualm wie aus einem riesigen Hexenkessel. Die vordere Wand des Gebäudes fehlte komplett, als sei sie mit einem scharfen Beil abgetrennt worden. Durch die Staubwolke erkannte ich vage die Umrisse der Möbel in unserem Zimmer, und das Bett war wahrscheinlich noch warm von unseren Körpern.
Dorthin konnten wir nicht zurück. » Komm « , sagte Stefan. » Lass uns runtergehen – vielleicht gibt es ja einen heißen Tee. «
Die restlichen Stunden unserer letzten Nacht, die wir uns so ganz anders vorgestellt hatten, verbrachten wir mit Tausenden anderer Menschen in der U-Bahn-Station, standen da eingezwängt wie Sardinen in der Büchse, tranken süßen Tee und sangen, um nicht den Mut zu verlieren.
Als My Old Man angestimmt wurde, fielen wir beide ein und sangen aus vollem Herzen mit.
» Erinnerst du dich, als deine Mutter uns dieses Lied beibrachte « , schrie er über den Lärm hinweg. » Und du uns erklärtest, was ›dilly dally‹ bedeutet? «
» Damals habe ich dich zum ersten Mal Klavier spielen hören « , rief ich zurück und erinnerte mich an die kleinen Dinge, die mir an jenem Tag aufgefallen waren, seine langen, schlanken Finger, die dunklen Haarsträhnen in seinem Nacken.
» An diesem Tag habe ich mich in dich verliebt « , flüsterte ich, » obwohl ich es damals noch nicht wirklich wusste. «
» Oh, ich wusste es schon lange vorher « , antwortete er und küsste mich. » Vom ersten Moment an, als ich dich damals im Lager sah. «
» Das denkst du dir gerade eben aus, du sentimentaler Kerl « , lachte ich. » Du warst bloß ein unglücklicher Junge mit Heimweh. «
» Mag sein, doch das hat mich nicht daran gehindert, mich zu verlieben « , sagte er. » Ich hatte bis dahin noch nie ein Mädchen getroffen, das so schön war wie du. «
Solche Extreme von Trauer und Freude, dachte ich später und streichelte sein Haar, während wir auf dem kalten Boden hockten und uns in den Armen hielten. Er hatte seine Familie unter verzweifelten Umständen verlassen, dafür mich getroffen. Und ich vermochte mir ein Leben ohne ihn ebenfalls nicht mehr vorzustellen.
Am nächsten Morgen kehrte Stefan unter Umgehung der Luftschutzhelfer in die zerstörte Pension zurück, um seinen Seesack und meine
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