Das Kastanienhaus
wir uns das Ende des Krieges versprachen. Wieder saßen wir um Vaters altes Radio und hörten die Nachrichten der BBC . Am Tag der Kriegserklärung war Stefan dabei gewesen, verriet mir später, dass es sein einundzwanzigster Geburtstag sei, und dann hatten wir uns zum ersten Mal geküsst. Jetzt war er irgendwo da draußen.
D-Day ist da. Früh am Morgen haben die Alliierten ihren Angriff auf die nordwestliche Flanke von Hitlers » Festung Europa « gestartet. Die erste offizielle Verlautbarung kam um kurz nach halb neun, als das Hauptquartier der alliierten Streitkräfte in Nordwesteuropa das erste Kommuniqué veröffentlichte. Es lautete: » Unter dem Befehl von General Eisenhower haben an diesem Morgen alliierte Seestreitkräfte, unterstützt von starken Luftverbänden, mit der Landung alliierter Truppen an der Nordküste Frankreichs begonnen. «
Die Nachricht war aufregend und schrecklich zugleich. Jeden Tag eilten wir los, um die Zeitung zu kaufen, und jeden Abend klebten wir am Radio, wenn die Sechsuhrnachrichten kamen. Churchill, unser Premier, nannte die erfolgreiche Landung » den Anfang vom Ende « .
Stefan hatte mich vorgewarnt, dass er sich vielleicht eine Weile nicht melden konnte, und jetzt fragte ich mich, ob er irgendwie in diese Landung in der Normandie eingebunden war. Wegen seiner exzellenten Sprachkenntnisse vermutete ich ihn hinter den feindlichen Linien. Dass ich ihm nicht schreiben konnte, betrachtete ich zu dieser Zeit fast als Erleichterung. Ich litt selbst noch zu sehr unter dem Verlust des Babys, um es ihm mitzuteilen. Tröstete mich bloß mit dem Gedanken, dass wir uns nach dem Krieg wieder lieben und auf ein neues Baby freuen könnten.
Ich las seine Briefe immer wieder, küsste jede Nacht vorm Schlafengehen sein Foto und versuchte ihn mir sicher in der Obhut einer französischen Widerstandsgruppe vorzustellen, die ihn mit gutem französischem Essen und Wein versorgte. Klammerte mich an den Gedanken, dass er schon einmal heil zu mir zurückgekehrt war und es diesmal genauso sein musste.
Doch mit jeder Woche, die ins Land ging, verlor ich ein Stück von dieser Zuversicht, und böse Vorahnungen begannen mich zu quälen. Eines Nachts träumte ich, es sei wieder Weihnachten 1938, als Stefan mich auf der Veranda sprechen wollte und seine langen Wimpern in der Wintersonne Schatten auf seine Wangen warfen. Plötzlich verwandelte er sich in einen Telegrafenjungen, der einen Umschlag in der Hand hielt. Zitternd und mit klopfendem Herzen erwachte ich, und seit dieser Nacht suchte mich immer wieder die Angst heim, dass ich ihn vielleicht nie wiedersehen würde.
Im August erfuhren wir von der Befreiung von Paris. Alle feierten, doch ich verkroch mich in mein Zimmer und vermochte die Freude nicht zu teilen. Wenn die Alliierten solche Erfolge erzielten, warum kamen dann keine Briefe durch? Stefan musste schließlich wissen, wie dringend ich auf eine Nachricht von ihm wartete. Ich betrachtete jedes Pressefoto von feiernden Menschen in Paris, die sich auf den Boulevards drängten und Champagnerflaschen köpften, und suchte in der Menge nach seinem Gesicht. Es war absurd, das wusste ich, aber ich klammerte mich an jeden Strohhalm. Irgendwann musste er schließlich heimkommen.
Während um mich herum hemmungsloser Optimismus um sich griff, wuchsen bei mir die Zweifel ebenso wie die Vorahnungen.
Dann traf das Telegramm ein.
Aus Höflichkeit und um den Botenjungen zu schonen, nahm ich den kleinen braunen Umschlag so ruhig wie möglich entgegen, sagte » Danke « und schloss die Haustür. Auch ohne das Telegramm zu öffnen, wusste ich, was drinstehen würde. Vermisst, wahrscheinlich gefallen. Sie gingen immer auf Nummer sicher, bis der Tod definitiv bestätigt war.
Ich schrie nicht und ließ mich nicht hysterisch auf den Boden fallen, wie man das aus Filmen kannte. Mein Kopf war einfach leer und mein Körper wie gelähmt. Die Welt um mich herum wurde eiskalt – wenn ich mich nicht mehr bewegte, dachte ich in meinem Unterbewusstsein, ließ sich vielleicht die Zeit zurückdrehen und das, was Stefan auch immer geschehen sein mochte, rückgängig machen.
Doch die Standuhr tickte beständig. Sekunden verstrichen, dann Minuten. Als sie mit zehn lauten Schlägen die volle Stunde verkündete, wurde ich aus meiner Erstarrung gerissen. Die Welt war nicht stehen geblieben.
Aller Gefühle beraubt, lehnte ich die Wange an das kalte Buntglasfenster und fragte mich fast emotionslos, was wohl als Nächstes
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