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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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kleine Reisetasche zu holen.
    » Diese Bombe nehmen wir als gutes Omen « , sagte er und wischte die Tränen aus meinem staubigen Gesicht. » Wir haben sie überlebt, also überstehen wir auch den Rest des Krieges. Pass auf dich und auf den kleinen Stevie auf. « Er tätschelte mir den Bauch und küsste mich ein letztes Mal. Dann war er fort.
    Als mein Zug Westbury erreichte, konnte ich mich kaum noch auf den Beinen halten und brauchte Hilfe beim Aussteigen. Solche Schmerzen kannte ich nicht, woher auch. In Wellen mit immer stärker werdender Intensität überrollten sie meinen Körper.
    Der Bahnhofsvorsteher rief ein Taxi herbei. » Bringen Sie Miss Verner zum Kastanienhaus. Schnell « , hörte ich ihn sagen. » Ich rufe auf der Stelle den Arzt an. «
    Dr. Fairweather traf zur gleichen Zeit wie ich ein. Er öffnete die Tür des Taxis, maß meinen Puls, legte mir die Hand auf die Stirn, fragte mich, wo es mir wehtat, und tastete meinen Bauch ab. Dann brachte er mich nach drinnen, indem er sich meinen Arm um die Schulter legte und mich die Eingangstreppe hochzog.
    Mutter erkannte sogleich, worum es sich handelte. » O Gott, Lily? Was ist bloß passiert? « , sagte sie und wandte sich an den Arzt. » Das kommt doch wieder in Ordnung, oder? «
    » Nein « , sagte er mit schonungsloser Offenheit. » Sie verliert gerade das Baby. Holen Sie alte Handtücher und eine Gummimatte, falls Sie eine haben. Ein paar Zeitungen und heißes Wasser wären auch gut. «
    Das durfte nicht sein, dachte ich durch einen Nebel aus Schmerz. Es war doch noch viel zu früh.
    Später erzählten sie mir, dass es ein Mädchen war – ein winziges Wesen von der Größe einer Kinderhand, dessen körperliche Merkmale gerade angefangen hatten, sich auszubilden. Zehn Finger, zehn Zehen, zwei Ohren und zwei fest geschlossene Augen. Obwohl sie nie gelebt hatte, gab ich meiner Tochter einen Namen und nannte sie Hannah nach Stefans Mutter. Das würde ihm gefallen, dachte ich.
    Als alles vorbei war und das Haus leise und dunkel dalag, überfiel mich abgrundtiefe Verzweiflung, spülte mich hinweg wie eine riesige schwarze Flutwelle. Während ich mein Weinen mit dem Kopfkissen zu ersticken versuchte, hörte ich ein leises Klopfen an der Tür.
    » Lily? Kann ich reinkommen? «
    Gwen wusste, dass Worte nicht helfen würden. Sie legte sich neben mich und hielt mich, bis ich aufhörte zu schluchzen und endlich einschlief. Als ich kurz vor dem Morgengrauen aufwachte, war sie noch immer da, und die weiche Baumwolle ihres Pyjamas und der Duft ihres Talkumpuders hüllten mich wärmend ein. Und selbst als das Elend mit Macht zurückkehrte, tröstete mich der sanfte Rhythmus ihres Atems, und ich schlief wieder ein.

Kapitel 20
    Seide wird oft mit Trauer in Verbindung gebracht. Im Viktorianischen Zeitalter war schwarze Kleidung ein absolutes Muss für die Besucher einer Beerdigung. Trauerkleidung, bestehend aus einem schwarzen, hochgeschlossenen Kleid mit langen Ärmeln, oft aus Bombazin, mit einem schweren Schleier aus Seidencrêpe, wurde normalerweise länger als ein Jahr getragen. Schwarze Seide wurde ebenfalls für Traueraccessoires wie Taschentücher, Schirme, Hüte und Schuhe verwendet.
    Aus: Die Geschichte der Seide von Harold Verner
    Wochenlang gab es keine neue Nachricht. Zunächst machte ich mir keine Gedanken. Stefan war mutig und klug, und ich glaubte an sein Versprechen, keine unnötigen Risiken einzugehen. Außerdem meinte ich noch immer seine Gegenwart zu spüren und fühlte mich ihm ganz nah. Gwen und Mutter nahmen mich mit auf einen Spaziergang in den Glockenblumenwald, und wir bestaunten die leuchtende Pracht, die uns die Natur Jahr für Jahr trotz Krieg, Tod und Verzweiflung bot. Beinahe dasselbe Blau wie bei den Saphiren in meinem Ring, dachte ich, drehte ihn an meinem Finger und kehrte in Gedanken zurück zu jenem Tag, als Stefan mich bat, seine Frau zu werden. Fünf Monate war das erst her, und doch hatte sich seither so vieles verändert. Mein Leben war nicht mehr wie zuvor.
    Der Juni brachte die Weidenblüte, und wieder wurden Erinnerungen an Stefan wach, an jenen Tag auf der Bank, als wir uns zum ersten Mal umarmt hatten. In der Nacht kuschelte ich mich an mein Kissen und versuchte seine Anwesenheit heraufzubeschwören, die Liebe in seinen fast schwarzen Augen, die Wärme seines Körpers, sein verheißungsvolles Lächeln, unsere wortlose Verständigung.
    Im Juni fand außerdem jenes Ereignis statt, auf das wir schon so lange warteten und von dem

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