Das Kastanienhaus
oder? «
» Ist schon okay, ehrlich. « Wenn sie nur endlich gehen würde, dachte ich.
» Außer nachts? «
Ich nickte stumm, weil ich meiner Stimme nicht traute. Das Mitgefühl in ihren blassgrünen Augen brachte meinen mühsam errichteten Schutzschild bedenklich ins Wanken.
» Komm, wir räumen die Scherben weg, und dann trinken wir noch einen « , sagte sie entschlossen und holte aus der Küche ein Tuch sowie Kehrschaufel und Besen.
In diesen wenigen Augenblicken hatte Gwen mich durchschaut und das ganze Ausmaß meines Elends erkannt. Noch ehe ich es mir selbst einzugestehen wagte. Umgekehrt wurde mir in diesen verzweifelten, trostlosen Momenten klar, wie stark sie war, wie einfühlsam, wie großherzig. Und ich schämte mich plötzlich, dass ich das bislang so wenig geschätzt hatte.
Scham und Trauer überwältigten mich mit einem Mal, und ich brach schluchzend zusammen. Ich gab es auf, die Tränen zurückzuhalten, lehnte mich gegen die Wand und ließ mich zu Boden rutschen, wischte mir die Nase mit dem Ärmel meines Nachthemds. Gwen war es, die mich hochzog, in den mondbeschienenen Salon führte, mich dort aufs Sofa setzte und mir neben einem Taschentuch ein volles Whiskyglas in die Hand drückte. Sie brachte eine Decke, legte sie mir um die Schultern und wickelte mich ein wie ein Kind.
» Also, rede mit mir « , sagte sie.
» Es gibt nichts zu reden. «
» Erzähl mir, wie sehr du ihn geliebt hast. «
Und so fing ich, oft zusammenhanglos, elendig weinend oder zornig mit dem Schicksal hadernd, zu erzählen an. Dass er mein Leben war und niemand ihn je ersetzen könne. Ich gestand ihr meinen Kummer und meine Albträume. » Ich will einfach nur sterben « , klagte ich, als ich schließlich keine Worte mehr fand und keine Tränen mehr hatte.
Gwen lehnte sich zurück und streckte sich. » Du wirst nicht sterben, Lily « , sagte sie mit fester Stimme. » Irgendwie wirst du es überstehen. Das Leben geht weiter. Das tut es immer. Und jetzt brauchen wir beide ein bisschen Schlaf. «
Ich nickte noch immer leicht schluchzend.
» Und du schiebst es vor dir her, wieder ins Bett zu gehen? «
Ich nickte erneut.
» Würde es dir helfen, wenn ich heute Nacht bei dir bliebe? « Ich weiß nicht, ob ich sie befremdet angesehen habe, jedenfalls drückte sie meine Hand. » Nicht das, was du denkst, Lily. Bloß so, nichts weiter. «
In dieser Nacht schlief ich besser als all die Wochen zuvor. Jedes Mal, wenn ich aufwachte, tröstete und beruhigte mich Gwens Anwesenheit und half mir wieder einzuschlafen.
I ch hatte schon lange aufgehört, die Liste der Gefallenen in der Zeitung anzuschauen, doch Stefans Name war wohl genannt worden, denn eine Flut von Kondolenzbriefen traf ein: von Cousins und Tanten, von Angestellten und Arbeitern, von Kameraden aus dem Pionierkorps. Michael, der zurück in England war, rief an und versprach vorbeizukommen, sobald die Benzinzuteilung es ihm erlaubte. All diese Zeichen der Anteilnahme berührten mich zutiefst und gaben mir ein wenig Mut. Nur den Briefumschlag mit Robbies Handschrift mochte ich nicht öffnen und legte ihn erst mal zur Seite. Als ich mich endlich aufraffte, ihn zu lesen, war ich angenehm überrascht.
Liebste Lily,
wir mögen in der Vergangenheit unsere Differenzen gehabt haben, aber bitte glaube mir, wenn ich Dir sage, wie aufrichtig leid es mir tut, vom Tod Deines Mannes Stephen zu hören. Ich bin überzeugt, dass er ein äußerst tapferer Mann war, und dies muss ein schrecklicher Schlag für Dich sein.
Ich vermag sicher Deinen Verlust nicht wirklich nachzuempfinden, doch ich habe ebenfalls Familienmitglieder und Freunde, die nicht mehr zurückkehren werden. Es ist schwer, sich vorzustellen, dass die Welt ohne sie weiterbesteht. Mein einziger Trost ist, dass ihr Tod einem guten Zweck diente. Was wir von Herzen wünschen, ist der Sieg über das Böse. Ich glaube fest daran, dass es unsere Pflicht und Schuldigkeit ist zu schützen, was wir haben, jeden Tag zu genießen und hart dafür zu arbeiten, das Versprechen auf eine bessere Welt einzulösen, für das sie gestorben sind.
Ich hoffe, demnächst in Westbury zu sein und Dir meine Aufwartung machen zu dürfen, um Dir persönlich mein Beileid auszusprechen.
In liebevoller Ergebenheit
Robbie
Ich konnte es nicht fassen, dass Robbie Cameron diesen Brief geschrieben hatte. Mochte er auch ein wenig schwülstig und pathetisch sein, so bezeugte er dennoch ehrliches Mitgefühl, was ich nach seinem schäbigen Verhalten
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