Das Kastanienhaus
Unbequemlichkeiten, die er als Kriegsgefangener erdulden muss. Er lebt, und das ist das Einzige, was zählt. «
» Oh, mein Liebling, tut mir so leid « , sagte Mutter. » Es war gedankenlos von uns … «
Einen Augenblick lang herrschte betretene Stille. Ich blickte mit finsterer Miene in die Runde. Wenn jetzt noch jemand den Mund aufmachte, dachte ich, dann war alles zu spät.
» Aber John ist dein Bruder, Lily, und mein Verlobter « , sagte Vera prompt.
Das war’s.
» Ja, und dein Verlobter ist gesund und munter und wird zu dir zurückkommen. « Meine Stimme überschlug sich, und fast mit einer gewissen Befriedigung sah ich, wie alle Farbe aus Veras Gesicht wich. Sollte sie sich doch zur Abwechslung auch mal schlecht fühlen. » Stefan – das war mein Mann, falls ihr es überhaupt noch wisst – wird nie zurückkommen. Niemals. Nie. «
Ich warf mein Besteck klirrend auf den Teller, stieß meinen Stuhl zurück und stand auf. Mutter erhob sich ebenfalls.
» Nein, mach dir um mich keine Sorgen « , sagte ich. » Bleib einfach nur da, genieß das Essen und plaudere weiter über John. Ich gehe zu Bett. « Dann knallte ich die Tür zu und verschwand mit dem im Moment durchaus befriedigenden Gefühl, ausgerechnet jene Menschen, die mich liebten, zutiefst verletzt zu haben.
Ein bisschen später kam Gwen und klopfte leise an meine Tür.
» Geh weg « , rief ich, aber sie trat trotzdem ein. Schweigend. Demonstrativ hatte ich ihr den Rücken zugedreht und blieb starr liegen, als sie die Decke anhob und sich neben mich legte. Fühlte mich mit einem Mal elend und war wütend auf mich selbst, weil ich mittlerweile die Schändlichkeit meines Verhaltens begriff. Wie konnte ich mich bloß so gehen lassen? Das hatte keiner von den dreien verdient.
Langsam, während Gwens Wärme mich einzuhüllen begann, wich meine Erstarrung, und ich spürte nur noch den Wunsch, mich in die tröstenden Arme eines anderen Menschen zu flüchten. Und dann war da Gwen, die mich an sich zog und beruhigend über meinen Kopf strich, während unaufhaltsam meine Tränen flossen, bis ich ganz leer war und endlich einschlief.
Von diesem Abend an wurde es zur Gewohnheit, dass sie bei mir schlief. Ihre Gegenwart tröstete mich, schenkte mir Ruhe und zunehmend auch Kraft. Half mir ein Stück ins Leben zurück. Selbst das Lachen lernte ich wieder, wenn wir uns abends im Bett wie zwei Backfische über dies und jenes unterhielten. Ich fing sogar an, mich auf die Zeit des Schlafengehens zu freuen. Was war schon dabei, sagte ich mir. Gwens Nähe half mir einfach, mit meinem Verlust und meiner Trauer besser umzugehen.
Kapitel 21
Die Raupe Bombyx Mori verwandelt sich nach ungefähr drei Wochen im Innern des Kokons in einen Schmetterling und stößt eine Substanz aus, die das gummiartige Serizin auflöst, sodass sie sich einen Weg nach außen bahnen kann. Es ist jedoch eine traurige Tatsache, dass für die kommerzielle Seidenproduktion der Schmetterling getötet werden muss, bevor er austritt, damit eine zusammenhängende, unbeschädigte Seidenfaser gewonnen werden kann.
Aus: Die Geschichte der Seide von Harold Verner
Langsam kehrten wir wieder zu unseren gewohnten Alltagspflichten zurück. Es blieb uns nichts anderes übrig, denn der Krieg ging weiter. Die Hoffnungen, dass die alliierte Landung in Frankreich den Krieg schnell beenden würde, erfüllten sich nicht. Nach wie vor fanden auf dem Kontinent erbitterte Kämpfe statt, und zu Hause fielen immer noch Bomben. Die Nazis wehrten sich mit allen Mitteln gegen den bevorstehenden Untergang, obwohl sie inzwischen fast alle Schlachten verloren und sich überall auf dem Rückzug befanden.
Nach dem D-Day war der Bedarf an Fallschirmseide ständig zurückgegangen, denn die Alliierten, die überall auf dem Kontinent vorrückten, brauchten keine Luftlandetruppen mehr. Für uns bedeutete das, die Arbeit zurückzufahren, weil sich die vielen Schichten nicht mehr rentierten. Ich machte mir bereits Sorgen, ob wir den Personalstand halten konnten. Außer den Aufträgen des Ministeriums hatten wir nämlich nicht gerade viel zu tun. Wie sollte ich uns da über die Runden bringen? Was nach dem Krieg geschah, schien ohnehin ungewiss. Wir würden uns neue Märkte und Kunden erschließen müssen, falls überhaupt noch ein Bedarf an Luxusartikeln aus Seide zu wecken war. Manchmal fragte ich mich, ob die lange Familientradition von Verner’s & Sons nicht mit mir, der Tochter, endete.
Unser Zusammenleben im
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