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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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Stefan gegenüber nicht erwartet hätte. Wo war der arrogante Robbie geblieben, den ich vor fast fünf Jahren kennenlernte? Der unangenehme, ja gemeine Mann, der mir drohte und mich zu einer so desaströsen Entscheidung drängte? Der Krieg schien uns alle verändert zu haben – vielleicht war Robbie dadurch ebenfalls weicher, mitfühlender und sensibler geworden. Zumindest ließ sein Brief diese Vermutung zu.
    Vera bekam Sonderurlaub. Stundenlang saßen wir auf dem Sofa im Salon, während ich ihr von Stefan und meiner großen Liebe erzählte. Unaufhaltsam flossen die Worte aus mir heraus, genau wie die Tränen, die sie begleiteten. Vera weinte mit mir, und dann nahm sie mich mit auf einen Spaziergang durch den Garten und über die Streuobstwiese, um den Kopf freizukriegen, wie sie sagte, bis es Zeit fürs Abendessen war.
    Ich hatte keinen Appetit, mochte seit Tagen nicht mehr richtig essen. Trotzdem zwang ich mich, zu den Mahlzeiten zu erscheinen, wenngleich es die Hölle war. So auch dieses Mal. Wir saßen zu viert in dem großen Esszimmer, das so viele Erinnerungen an glückliche Tage barg – an Vater und John, an Stefan und die beiden anderen Jungen –, und das konnte ich nur schwer ertragen.
    Während Gwen Steckrübenwein einschenkte, plauderte Vera mit Mutter über die Rationierung und überschüttete sie mit Komplimenten über die kulinarischen Kunststücke, die sie mit den bescheidenen Mitteln vollbrachte. Ich hingegen schob die hochgelobten Bissen lustlos auf dem Teller herum. Irgendwann schwiegen wir alle, weil es wirklich nichts mehr zu sagen gab. Bis Vera der Brief von John einfiel.
    » O ja, bitte. « Mutter war gleich Feuer und Flamme. » Ich habe seit ein paar Wochen nichts von ihm gehört. Gibt’s Neuigkeiten? «
    » Er ist in ein anderes Lager verlegt worden, Stalag Luft V. Er schreibt nicht, warum – zwischen den Zeilen kann man allerdings lesen, dass er nicht gerade glücklich darüber ist. «
    » Nicht glücklich? « , warf Mutter bestürzt ein. » Aber es geht ihm gut, oder? «
    » In den letzten Briefen waren immer ganze Sätze von der Zensur geschwärzt. Deshalb frage ich mich, ob er vielleicht Informationen nach draußen schmuggeln wollte und dabei erwischt wurde. Vielleicht war die Verlegung ja eine Art Strafe. «
    » Hat es auch andere getroffen? « Mutters Stimme klang vor Sorge ganz schrill.
    » Nein, ich glaube nicht, und deshalb ist er vermutlich unglücklich « , sagte Vera.
    » Armer Junge, wie schrecklich « , fuhr Mutter fort. » Ich weiß, wie wichtig es für die Jungs ist, dass sie Freunde in der Nähe haben, denen sie vertrauen können. «
    Gwen schaltete sich jetzt ebenfalls ein, und je länger das Gespräch andauerte, desto kribbeliger und ärgerlicher wurde ich. Lauter kleine Unannehmlichkeiten wurden diskutiert, unbedeutende Details, immer und immer wieder. Druck baute sich hinter meinen Augen auf, verstärkte sich, bis es sich anfühlte, als würde mein Kopf explodieren. Warum konnten sie nicht über etwas anderes reden? John war mein Bruder, ich liebte ihn und wünschte, dass es ihm gut ging. Und ja, ich machte mir ebenfalls seinetwegen Sorgen, und doch … Er lebte, dazu in relativer Sicherheit. Wir hatten es amtlich, bekamen Briefe, während andere Familien in schrecklicher Ungewissheit lebten und tagtäglich Tausende starben oder schon tot waren. Wie Stefan.
    » Glaubst du wirklich, dass es ihm an nichts fehlt, Vera? « , hörte ich Mutters Stimme. » Oder sollen wir uns an das Rote Kreuz wenden? «
    Mehr und mehr stauten sich die Aggressionen in mir auf und suchten unaufhaltsam ein Ventil. Mir selbst kam meine Wut wie eine rote Welle vor, über die ich keine Kontrolle hatte. Um Himmels willen, dachte ich, John schlief jede Nacht in einem Bett mit Decken, hatte Essen und ein Dach über dem Kopf. Er würde zu uns nach Hause zurückkommen, sobald alles vorbei war. Stefan nicht. Von ihm wusste ich nicht einmal, wo er geblieben war – ob er wie viele unentdeckt auf einem schmutzigen Feld, in einem Graben lag oder notdürftig an unbekanntem Ort verscharrt worden war.
    Als Vera zu einer Antwort ansetzte, brach der Damm in meinem Innern. » Um Gottes willen « , schrie ich los. » Könnt ihr vielleicht mal aufhören, über John zu reden? «
    Die drei starrten mich schockiert an, wussten nicht, wie ihnen geschah.
    » Ständig John dies, John das. Die ganze Zeit lang. So wie ihr drei euch aufführt, könnte man meinen, es gäbe nichts Schlimmeres auf der Welt als ein paar

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