Das Kastanienhaus
Anwesen an der Küste « , sagte er. » Alter Landadel. Nicht mehr ganz reich, aber den einen oder anderen Shilling haben sie immer noch übrig. Sollte eine nette Party werden. «
Ich war grün vor Neid. Veras letzte Briefe aus London hatten dazu geführt, dass ich mich schrecklich bemitleidete. Sie hatte das Lokal neben dem Schwesternheim entdeckt, traf sich mit attraktiven Jungmedizinern und ging jede Woche ins Kino. Selbst jetzt kurz vor Weihnachten war mein Kalender leer, und ich langweilte mich zu Tode.
Deshalb zögerte ich nicht eine Sekunde, als John ein paar Tage später sagte: » Willst du mit zu dieser Silvesterfeier gehen, Schwesterchen? Hol die alten Partyklamotten aus der Schublade « , fuhr er fort. » Wir können beide ein bisschen Abwechslung gebrauchen. «
Leider besaß ich nichts, was auch nur annähernd elegant genug gewesen wäre. Wenn nämlich in solch förmlichen Einladungen das Tragen von schwarzen Krawatten erbeten wurde, dann hieß das im Klartext für die Frauen, dass sie in Ballkleidern erscheinen mussten. Wo sollte ich in Westbury eines finden? Und selbst wenn, wovon sollte ich es bezahlen?
Plötzlich erinnerte ich mich an den grünblau changierenden Seidenstoff, der mich an meinem ersten Tag in der Fabrik so sehr begeistert hatte, und ich fragte Vater, ob ich ein paar Meter davon haben könnte, als Weihnachtsgeschenk sozusagen. Ich vergrub mich in Modezeitschriften und versuchte mir vorzustellen, welcher Schnitt aus meiner Bohnenstangenfigur wohl am meisten herausholen würde. Modern musste es sein, dabei elegant genug, um den Anforderungen einer Abendrobe zu genügen. Schließlich fand ich den perfekten Schnitt: ein Kleid mit einem trägerlosen Mieder, das in einen weiten, bodenlangen Rock überging und meine Taille betonte, dazu ein passendes Bolerojäckchen gegen die Kälte.
An den Tagen nach Weihnachten schufteten Mutter und ich an ihrer alten Tretnähmaschine, und ich ertrug zahllose pieksende Anproben, damit das Kleid perfekt saß. Dann war es fertig, und ich erkannte die elegante junge Frau kaum wieder, die mir aus dem hohen Spiegel in meinem Zimmer entgegenblickte. Der Schnitt des Kleides und die schimmernde Seide ließen meine schlaksige Figur, die in der Fabrik üblicherweise in Hosen und ausgebeulten Pullovern steckte, ausgesprochen weiblich erscheinen.
Meine Experimente mit Lippenstift und Wimperntusche zauberten interessante neue Züge in mein Gesicht, das ich immer als gewöhnlich empfunden hatte. Selbst mein schlichter brauner Bob wirkte mit einem Mal eleganter, nachdem ich mir probeweise das Haar hinter die Ohren steckte, damit Mutters Smaragdohrringe besser zur Geltung kamen. Wir hatten ein kleines Abendtäschchen aus Seidenresten genäht, und meine alten weißen Satinpumps – mit niedrigem Absatz, damit ich die jungen Männer beim Tanzen nicht überragte – waren in der Färberei passend zu den Kettfäden grün eingefärbt worden.
Gar nicht schlecht, dachte ich und betrachtete mich zufrieden von der Seite, schob die Brust vor und übte schüchtern ein kokettes Lächeln. Vielleicht wurde ich ja zu dem einen oder anderen Tanz aufgefordert.
Als wir die schier endlose Auffahrt durch ein riesiges Parkgelände hinauffuhren und das Herrenhaus erblickten, legte sich meine Aufregung und machte Sorge Platz. Es war ein viktorianisches Gebäude im gotischen Stil, erbaut aus rotem Ziegelstein mit gemauerten Bogenfenstern, kunstvollen Schornsteinen und Türmchen, die alle Ecken krönten. Heute würde ich es als bombastisch bezeichnen, damals jedoch versank ich beinahe vor Ehrfurcht. In der Auffahrt parkten schicke Wagen: Nobelmarken wie Jaguar, MG und Bentley. John stellte unseren bescheidenen Morris außer Sichtweite ab.
Wir wurden von einem echten Butler erst in eine höhlenartige, eichengetäfelte Empfangshalle gebeten und dann nach oben zu unseren Zimmern geleitet. Ich trug mein Kleid auf seinem Bügel wie einen Schild vor mir her und fürchtete, nie wieder zurückzufinden, während wir endlos lange, düstere Korridore entlangschritten und um zahllose Ecken an Dutzenden identischer Türen vorbeigingen.
Endlich erreichten wir mein Schlafzimmer, das die Größe eines Ballsaals zu haben schien. Sicherlich einst sehr prachtvoll, waren die Vorhänge und der Bettüberwurf aus Chintz inzwischen verblichen, und das dürftige Kohlefeuer in dem kleinen Kamin richtete nur wenig gegen die Kälte aus. Und als ich mich frisch machen wollte, musste ich mehrere Minuten lang warten,
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