Das Kastanienhaus
bis ein dünner Strahl bräunlichen Wassers aus dem Hahn am Waschbecken rann – offenbar waren die Rohre alt und die Leitungen, die zu diesem entlegenen Haus führten, lang.
Bibbernd zog ich mein Kleid an und starrte dann angestrengt in den braunfleckigen Spiegel, um mein Make-up aufzulegen. Ich fluchte, als Mascarakleckse auf meine Wange tropften. Im schwachen Licht einer einzelnen Birne, die hoch oben unter der Decke baumelte, versuchte ich sie zu entfernen, war allerdings nicht sicher, ob mir das richtig gelang.
Aber es war bereits zehn nach acht, und ich musste nach unten gehen. Nervös stöckelte ich durch den Irrgarten an Korridoren und verlief mich ein paarmal. Endlich fand ich das Treppenhaus, und nachdem ich die Stufen ohne Schaden hinuntergekommen war, folgte ich dem Stimmengewirr, das schon von Weitem zu hören war, zum Salon. Dort fand ich etwa vierzig Leute vor, die fröhlich dem Champagner zusprachen und sich angeregt unterhielten, als würden sie alle einander seit Jahren kennen.
Ich blickte mich hastig nach John um, konnte ihn jedoch nirgends entdecken. Dabei fiel mir ein großer Mann auf, der vor drei jungen Frauen Hof hielt, die angeberisch ihre langen Zigarettenspitzen schwenkten und viel kicherten. Verwundert betrachtete ich die ungewohnte Bekleidung des Mannes, denn er trug einen Rock, genauer gesagt einen schottischen Kilt. Ich verzog mich in eine Ecke und bemühte mich, ihn nicht weiter anzustarren, und war über alle Maßen erleichtert, als der Gong zum Abendessen ertönte. Doch musste ich kurz darauf mit einem Anflug von Verlegenheit feststellen, dass der Mann mit dem Rock ausgerechnet mich anlächelte. Reichten ihm denn seine drei Damen nicht? Die nämlich schauten ausgesprochen grimmig, als er auch noch zu mir herüberkam und mir die Hand entgegenstreckte.
» Robert Cameron, freut mich, Sie kennenzulernen. Würden Sie mir die Freude machen, mich zum Dinner zu begleiten? «
» Lily Verner, guten Abend « , sagte ich, während ich seine Hand schüttelte und das auffallende Blau seiner Augen registrierte.
» Wenn ich das sagen darf, Miss Verner, dieses Kleid ist einfach umwerfend. Außergewöhnliche Farben. Aus Seide, oder? « Er nahm meinen Arm und führte mich entschlossen in Richtung Esszimmer. Auf dem Weg dorthin nahm ich ihn näher unter die Lupe; eine Art Felltäschchen hing von seiner Taille, das – wie ich später erfuhr – Sporran genannt wird. Der Kilt endete auf Höhe seiner Knie, und darunter waren haarige Beine zu sehen. Er trug weiße Socken, und in einem davon steckte ein kleiner Dolch. Es fühlte sich unangenehm vertraulich und viel zu intim an, diesen haarigen Beinen so nahe zu sein, und ich wagte kaum, mir vorzustellen, was er wohl unter diesen karierten Falten trug – oder auch nicht.
Wegen seiner höflichen Bestimmtheit vermutete ich, dass er früher beim Militär gewesen war – jetzt sicher nicht mehr, denn dafür waren seine Koteletten zu lang. Ich schätzte ihn auf mindestens Ende zwanzig, denn er hatte bereits Geheimratsecken, und wenn er lachte, umgab seine Augen ein Netz von tiefen Fältchen. Auch schien er nicht sonderlich asketisch zu leben, denn über dem Kummerbund seines Rocks deutete sich ein leichter Bauchansatz an, und sein Gesicht war ein wenig gerötet. Wie ein Kostverächter sah dieser Mr. Cameron jedenfalls nicht aus.
» Und wo haben Sie sich bisher versteckt, Miss Lily Verner? « , fragte er, rückte den Stuhl für mich zurecht und setzte sich neben mich. Ich zögerte. Hätte ich mir doch im Voraus Gedanken darüber gemacht, was ich auf eine solche Frage antworten könnte, und mir eine kleine Geschichte zurechtgelegt. In dieser vornehmen Gesellschaft mochte ich nicht sagen, dass ich derzeit gerade Seidenweberlehrling war.
» Ach, hier und da « , antwortete ich leichthin und versuchte kultiviert zu klingen.
» Dann erzählen Sie mir wenigstens, wo Sie dieses traumhafte Kleid erstanden haben « , beharrte er.
Ich kramte in meinem Gedächtnis nach dem Namen eines noblen Londoner Modesalons, aber mir fiel partout keiner ein. Aus heiterem Himmel beschloss ich, vollkommen ehrlich zu sein. Was spielte es schon für eine Rolle? Ich würde keinen dieser Menschen je wiedersehen.
» Der Stoff stammt aus der Seidenweberei meiner Familie « , sagte ich. » Verner’s in Westbury. Mein Vater leitet das Unternehmen. «
Ich hatte einen indignierten Blick erwartet oder zumindest einen schnellen Themenwechsel, doch nichts dergleichen geschah. Zu meiner
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