Das Kastanienhaus
Gut. « Leo erhob sich. » Ich hole sie her, erkläre ihnen, was Sie anzubieten haben, und dann sehen wir ja, ob ihnen Ihr Vorschlag zusagt. « Er war bereits halb aus der Tür, als er sich noch einmal umdrehte. » Die älteren Jungs sind alle ganz scharf darauf, nach London zu kommen. Könnte also sein, dass Sie ein bisschen Überzeugungsarbeit leisten müssen, um ihnen eine Provinzstadt schmackhaft zu machen. Aber soviel ich weiß, ist die Zugverbindung gut, und die Fahrt dauert nicht lange, oder? «
Als Leo kurz darauf mit den dreien in das Blockhaus zurückkam, erkannte ich sie sofort wieder. Sie hatten zu jenen gehört, die bei unserer Ankunft draußen Fußball spielten. Jetzt allerdings benahmen sie sich erheblich zurückhaltender als zuvor. Leo stellte uns einander vor. » Stefan, Kurt, Walter, dies sind John Verner und seine Schwester Lily. « Sie gaben uns höflich die Hand, ohne uns jedoch anzublicken. Auf mich wirkten sie völlig anders als englische Jungen ihres Alters. Lag das bloß an der fremden Sprache oder mehr an dem anderen Aussehen – an der Blässe ihrer Gesichter, den mageren Körpern, den unmodernen Frisuren und dem seltsamen Schnitt ihrer Kleidung? Sie taten mir leid, und ich fragte mich, was wohl in diesem Moment in ihren Köpfen vorgehen mochte.
Als John zu sprechen anfing und ihnen unser Angebot erläuterte, wurden ihre Gesichter lebhafter, ja sogar aufgeregt. Dann, sobald er schwieg, schienen sie sich untereinander zu beraten – alle drei redeten durcheinander, und ihre Worte überschlugen sich fast. Zu gerne hätte ich gewusst, was sie sagten, ob ihnen unser Angebot gefiel. Ihren Mienen nach zu urteilen ja. Ich weiß nicht, ob John, der seit seinem Aufenthalt in der Schweiz gut Deutsch sprach, sie verstand – vermutlich schon.
Ich musterte Stefan, der – da hatte Leo recht – eindeutig älter wirkte als siebzehn. Er war größer als die beiden anderen, sehr schlank und trug eine schäbige braune Lederjacke und eine schwarze Hose. Seine Wangen bedeckten dunkle Bartschatten, als habe er sich seit ein paar Tagen nicht rasiert, und auch seine schwarzen Haare wirkten nicht sonderlich gepflegt, hingen strähnig bis auf den Kragen hinunter. Sicher hatte er anderes im Kopf als sein Aussehen. Obwohl ich nicht verstand, was er sagte, klang seine Stimme angenehm, tief und männlich. Sympathisch und ein wenig geheimnisvoll wie der Junge selbst.
Kurt und Walter wirkten neben ihm beinahe wie Kinder. Sie ähnelten sich ziemlich und erinnerten mich ein wenig an frische Bauernburschen, obwohl sie im Augenblick nicht sonderlich gut ernährt waren. Beide trugen völlig unmoderne Tweedhosen, handgestrickte Pullover und darüber wollene Westen, wie man es eher auf dem Land findet, und hatten das gleiche drahtige mausbraune Haar. Kurt war gesprächig und selbstbewusst, Walter hingegen wiederholte meist, was sein großer Bruder gesagt hatte. Beide schienen Stefan als ihren Anführer zu betrachten und wandten sich an ihn, wenn sie irgendetwas nicht verstanden.
Während sie sich unterhielten, versuchte ich ihre Charaktere einzuschätzen und fragte mich, wie diese Jungen wohl mit der bisweilen derben Kameraderie der Männer in der Fabrik zurechtkommen würden.
» Sie scheinen alle sehr angetan von unserem Angebot « , sagte John, als er sich schließlich zu mir umdrehte. » Besonders begeistert sind sie von der Idee, eigenes Geld zu verdienen und in einem eigenen Haus wohnen zu können. « Er lachte. » Obwohl nur der Himmel weiß, ob sie kochen oder putzen können. Was meinst du? «
» Wegen der Haushaltsführung können wir uns später noch Gedanken machen. Wichtiger ist die Frage, ob sie schnell genug lernen, um sich in der Fabrik nützlich zu machen « , sagte ich eingedenk Vaters strikter Ermahnungen, nur passende Kandidaten mitzubringen.
» Keine Ahnung. « John zuckte die Schultern. » Ich nehme an, das wird sich erst mit der Zeit zeigen. «
» Und vielleicht spornen sie sich ja auch gegenseitig an « , überlegte ich.
John nickte zwar, blickte jedoch weiterhin etwas skeptisch. Deshalb kam ich ihm zuvor, bevor er sich womöglich anders besann. » Wie auch immer. Wir können sie unter keinen Umständen hierlassen « , sagte ich und war mit einem Mal von der absoluten Gewissheit erfüllt, dass es die einzig richtige Entscheidung war. Für mich kam etwas anderes überhaupt nicht mehr infrage.
» In Ordnung, versuchen wir es « , sagte John, und mir fiel ein Stein vom Herzen.
Dieses Mal war der
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