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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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an die Rattenfänger-Illustration in meinem Märchenbuch, und ich war fest davon überzeugt, dass die Kinder, die ihm folgten, nie wieder zurückkehrten. Deshalb weigerte ich mich, mit dem Clown zu gehen, erfand alle möglichen ausgefallenen Beschwerden und verbrachte den Rest der Ferien beschämt und elend in meinem Stockbett.
    » Du bist so still, Schwesterherz, woran denkst du? « , fragte John. Als ich es ihm erzählte, lachte er. » Es werden heute wohl nicht so viele Clowns unterwegs sein, nehme ich an. «
    Am Eingang waren die Worte trotz der abblätternden Farbe noch immer zu entziffern: Willkommen im Sunnyside-Feriencamp. Das Tor wurde bewacht, und Stacheldrahtspiralen auf der Mauer, die das Areal umgab, sorgten dafür, dass niemand sich unerlaubt davonmachte. Wir wurden durchgewunken und zu einem geteerten Weg dirigiert, der zu einer Ansammlung von Gebäuden führte.
    Beim Näherkommen entdeckten wir eine Gruppe älterer Jungen, die auf einem zertrampelten Rasen mit einem Fußball herumkickten. Andere Kinder, jüngere überwiegend, saßen zusammengekauert auf Bänken vor einer der pastellfarben gestrichenen Hütten und schauten teilnahmslos zu. Sie froren ganz offensichtlich in dem eisigen Wind; ihre Gesichter waren ernst und blass, sahen aus wie eine Reihe weißer Monde, als sie sich umdrehten und unseren Lieferwagen beobachteten.
    Jedes Kind hatte ein Schild an den Mantel geheftet. » Wie kleine Päckchen « , sagte ich. John nickte, und seine Miene drückte eine Mischung aus Betroffenheit und Zorn aus.
    Wir hielten an und stiegen aus, und die Jungen hörten mit dem Fußballspielen auf, rannten zu uns herüber, umringten uns und bombardierten uns mit Fragen in ihrer merkwürdig gutturalen Sprache. Sie hielten überrascht inne, als John mit ihnen deutsch zu sprechen begann, um anschließend umso aufgeregter auf ihn einzureden.
    Ich verstand kein Wort. John lachte. » Sie wollen wissen, wer wir sind und warum wir hier sind. Woher wir kommen und ob wir ihnen helfen können. Und sie haben mich gefragt, ob ich ihnen den Piccadilly Circus zeigen kann « , erklärte er. » Sie langweilen sich offenbar und wünschen sich dringend ein wenig Abwechslung. Wer wollte ihnen das verdenken? «
    Endlich erschien ein Mann und bahnte sich seinen Weg durch das Gedränge. Er war klein und hatte, obwohl er noch nicht alt war, bereits eine Halbglatze. Gekleidet in Arbeitsjeans und eine formlose dicke Jacke, wirkte er sehr lässig – Mutter hätte vermutlich von nachlässig gesprochen. Jedenfalls sah er völlig anders aus als die Campmitarbeiter meiner Kindheit, und das machte ihn mir auf Anhieb sympathisch.
    » Sie müssen John und Lily Verner sein. Willkommen in Sunnyside. Der Name klingt ein bisschen ironisch an einem Tag wie heute, meinen Sie nicht auch? Ich bin Leo Samuels. Man nennt mich hier den Chef vom Dienst, aber das ist bloß ein vornehmer Titel für Obertrottel. « Er strahlte, als wir uns die Hände schüttelten. » So, was können wir für Sie tun, oder vielmehr: Was können Sie für uns tun? Kommen Sie mit ins Büro, da haben wir es wenigstens warm, während wir uns unterhalten. « Zu den Jungen sagte er: » Habt noch ein wenig Geduld « , um sich sogleich wieder uns zuzuwenden. » Sie müssen verstehen, dass sie so auf Sie einstürmen. All diese Kinder und Jugendlichen haben schlimme Zeiten durchgemacht: die Schikanen in ihrer Heimat, die Trennung von den Eltern … Und hier mitten in der Wildnis von Essex festzusitzen trägt auch nicht gerade dazu bei, sich wohlzufühlen. Sie müssen so bald wie möglich weg von hier. «
    An einer der größeren Blockhütten am Ende des Weges, den wir entlanggingen, war ein hastig gepinseltes Schild angebracht worden: Kindertransport, bitte erkundigen Sie sich hier. Zwei Stufen führten über eine hölzerne Terrasse durch verglaste Doppeltüren ins Innere. Ich schaute mich um. Wir befanden uns im sogenannten Wohnbereich mit Küchenzeile, die Türen zu den anderen Räumen waren geschlossen. Leo deutete auf einen Tisch, der übersät war mit einem Wust von Papieren und Büchern, räumte ein bisschen auf und ging dann zum Herd, um Wasser aufzusetzen. » Bitte, nehmen Sie Platz. Tee oder Kaffee? Mit Milch und Zucker? «
    Er erzählte lebhaft von seiner Arbeit, während er drei Becher in dem überfüllten Spülbecken säuberte und darauf wartete, dass das Wasser im Kessel kochte. » Bitte entschuldigen Sie das Chaos, aber wir haben zu wenige Betreuer « , sagte er und schob

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