Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
Vom Netzwerk:
zwei Bücher von Conan Doyle verschlungen, und bei jedem Besuch im Kastanienhaus vertiefte er sich in Vaters Times, in der er nach Neuigkeiten vom Kontinent suchte.
    Beim Mittagessen drängten wir die drei, von zu Hause zu erzählen. Allerdings bekamen wir nur die geschönte Version zu hören. Stefan erzählte uns von seinen Eltern, die beide früher Lehrer in Hamburg gewesen waren, und von seinen jüngeren Zwillingsschwestern. Er hoffte, sie würden bald genug Geld zusammenhaben für die Ausreisegenehmigungen und die Überfahrt nach England. Wobei, fügte er betrübt hinzu, das schwierig sei, da sie ja ihre Anstellungen als Lehrer verloren hatten. Kurt und Walter sprachen voller Sehnsucht über ihre Heimat in den bayrischen Bergen. Sie hatten in einem großen Haus auf dem Land gelebt, das der Familie gehörte. Die englische Landschaft sei so flach, klagten sie. Dennoch gewann ich den Eindruck, dass sie sich bei uns langsam heimisch zu fühlen begannen. Oder zumindest geborgen.
    Weil es regnete, verzichteten wir an diesem Tag auf den Spaziergang durch die Auwiesen und wollten uns gerade zu einer Runde Karten an den Tisch setzen, als mir eine bessere Idee kam.
    » Wie wäre es mit einem Lied, Mutter? « , sagte ich und deutete auf den Stutzflügel. Es wurde zu jener Zeit nur selten auf ihm gespielt, und er diente im Grunde bloß als Ablagefläche für Fotografien und Nippes.
    » Ach nein « , sagte sie errötend und strich sich nervös ihren Rock glatt. » Ich habe seit Jahren nicht mehr gespielt. « Sie hatte eine klassische Klavierausbildung genossen, ohne daraus einen richtigen Beruf zu machen, außer dass sie eine Zeit lang Klavierunterricht erteilte und an regionalen Musikwettbewerben teilnahm, bevor Ehe und Kinder das verhinderten. Trotzdem hatte sie sich nie darüber beklagt.
    » Komm schon, du kannst es « , sagte ich, ging hinüber zu der Klavierbank, holte die Noten daraus hervor und blätterte in den Heften. Ich fand, wonach ich suchte: eine Partitur voller Eselsohren, deren Bindung fast auseinanderfiel. Lieblingsstücke des Varietétheaters.
    » So, das hätten wir « , sagte ich, räumte den Nippes vom Flügel, machte ihn auf, klappte die Notenhalterung herunter, packte Mutter am Ellenbogen und führte sie an das Instrument. » Jetzt musst du nur noch spielen. «
    » Es ist so lange her. « Sie schüttelte den Kopf. » Meine Finger wissen bestimmt nicht mehr, was sie tun müssen. «
    Es war Stefan, der sie schließlich dazu überredete. Vorgebeugt auf der Armlehne des Sofas sitzend, beobachtete er uns genau. » Bitte, Mrs. Verner. Bitte spielen Sie uns etwas vor « , sagte er. » Wir würden wirklich gerne ein Stück oder mehrere hören. «
    Als sie anfing, verstummten alle. Während ihre Finger mit zunehmender Sicherheit über die Tasten glitten, erinnerte ich mich daran, wie sie mich als Kind am Flügel auf den Schoß zu nehmen pflegte und wie ich mit dem Egoismus eines Kindes damals dachte, ihre Musik gelte nur mir. Jetzt, da ich sie nach so langer Zeit wieder spielen hörte, erkannte ich, welch großes Opfer sie gebracht hatte. Für uns, denn sie gab ihre Musik nur auf, um sich ganz ihrer Familie widmen zu können. Das hielt sie für ihre vorrangige Aufgabe.
    Nach einer Weile hielt sie inne und blätterte das ramponierte Notenheft durch. » Ah, das hier ist gut. My Old Man Said Follow the Van . « Sobald die vertraute Melodie erklang, standen John und ich auf, stellten uns neben Mutter und sangen den Text mit. Nach ein paar Strophen gesellten sich die drei Jungen dazu, summten bloß oder stimmten in den Refrain ein.
    Als wir die Worte » dillied and dallied, dallied and dillied « sangen, begannen sie zu kichern. » Was bedeutet dilly dally? « , fragte Walter. Ich suchte krampfhaft nach einer unverfänglichen Erklärung.
    » Es bedeutet, dass sie viel Zeit damit verbrachten, in der Gegend herumzuhängen und zu trinken oder zu reden oder … «
    John unterbrach mich und sagte etwas auf Deutsch, und sie lachten schallend wie Schuljungen. Beim nächsten Mal, als wir den Refrain wiederholten, gaben sie vorlaute Kussgeräusche von sich, und Vater runzelte missbilligend die Stirn.
    Nach drei weiteren Liedern erklärte Mutter, sie habe ihr Repertoire voll ausgeschöpft, und ging hinaus, um Tee zu machen. Während die anderen ans wärmende Kaminfeuer zurückschlenderten, blieb Stefan gedankenverloren am Flügel stehen, bevor er lächelnd zu mir herüberblickte, die Bank herauszog, darauf Platz nahm und

Weitere Kostenlose Bücher