Das Kastanienhaus

applaudierten wir ebenso begeistert wie gerührt. Er verbeugte sich formvollendet, und als er sich langsam wieder aufrichtete, sah ich zum ersten Mal, dass sein Gesicht vor Freude strahlte.

Kapitel 6
    Die Veredelung ist der letzte Vorgang in dem langen und komplexen Prozess, das Gespinst der Seidenraupe in ein perfektes Stück gewobener Seide zu verwandeln. Abhängig von der gewünschten Art des Stoffes, kann die Veredelung vielfältige Formen des Färbens, Kochens, der Breiteneinstellung, des Trocknens und der Pressung beinhalten, um eine außerordentliche Bandbreite von Charakteristika zu erreichen: Festigkeit, Fülle, Stumpfheit, Glanz, Weichheit oder Fasson. Bei bestimmten technischen Einsatzmöglichkeiten, wie etwa bei Fallschirmseide, ist die Veredelung maßgebend, um die erwünschte Porosität des Gewebes zu bestimmen.
    Aus: Die Geschichte der Seide von Harold Verner
    An einem warmen Spätnachmittag im Mai saß ich in einem Liegestuhl im Garten, kühlte meine müden Füße in einem Eimer kaltem Wasser und las einen neuen Liebesroman, einen Gin Tonic in der Hand, während Hirschkäfer in der Dämmerung brummten.
    Ich hätte zufrieden sein sollen und war es doch nicht, denn ich sehnte mich nach einem bisschen Romantik. Obwohl es in Westbury eine Menge Kneipen gab, bot es wenig Möglichkeiten, Leute nach meinem Geschmack kennenzulernen.
    Robbies geflüstertes Versprechen, mich bald wiederzusehen, klang inzwischen hohl in meinen Ohren. Er hatte sich seit drei langen Monaten nicht gemeldet, nicht mehr seit dem Treffen in der Fabrik. Ich hatte es aufgegeben, als Erste zum Telefon zu rennen, wenn es klingelte, und dem Briefträger entgegenzueilen. Ich war einsam und mein gesellschaftliches Leben auf dem absoluten Tiefpunkt angekommen.
    Als ich das aufdringliche Tuten einer Autohupe hörte, verlor ich keine Zeit damit, Schuhe anzuziehen, und sprintete gleich barfuß los zur Vorderseite des Hauses. Dort lehnte John bereits wartend neben der Treppe, und auf der Zufahrt hörte ich Motorengeräusche.
    » Nettes Auto « , sagte ich, als ein tiefergelegter dunkelblauer Sportwagen vorfuhr.
    » Das ist ein Morgan « , flüsterte er. » Sehr exklusiv und sehr teuer. «
    Der Wagen kam knirschend auf dem Kies zum Stehen. Robbie sah in seiner pelzbesetzten Fliegerjacke und dem weißen Schal aus Fallschirmseide wie ein Hollywoodschauspieler aus. Ich vergab ihm auf der Stelle sein langes Schweigen. Er zog die lederne Pilotenmütze vom Kopf, stemmte sich hoch und schwang die Beine über das Chassis.
    » Mein neues Spielzeug. Was halten Sie davon? « Er schien außerordentlich zufrieden mit sich selbst.
    » Schön « , sagten wir im Chor.
    Er schüttelte Johns Hand. » Wie geht es Ihnen, alter Knabe? Lange nicht gesehen. «
    Er hob meine Finger an den Mund und küsste sie betont förmlich, während seine Augen heftig mit mir flirteten. Dann senkte er den Blick auf meine bloßen Füße, und plötzlich fühlte ich mich irgendwie nackt.
    » Hallo, Lily. Der rote Nagellack gefällt mir – sehr erotisch … exotisch, meine ich natürlich. « Er grinste unbefangen und äußerst vertraulich. » Wie geht’s denn so alles in allem? « Die letzte Frage war an meinen Bruder gerichtet.
    » Nicht schlecht, kein Grund zum Klagen « , sagte John. » Schickes Auto. «
    » Eine kleine Schönheit, nicht wahr? Lust auf eine Spritztour? Sie können beide mitfahren, wenn es Lily nichts ausmacht, sich seitlich auf den Rücksitz zu hocken. «
    Der Geruch nach Benzin und Motoröl in der warmen Abendluft versprach Abenteuer. Während Robbie den Wagen über die gewundenen Sträßchen lenkte, kamen an jeder Biegung neue Düfte hinzu: von Grünholzfeuer und auf den Wiesen trocknendem Heu, von Teichminze und wildem Knoblauch, dazu die süßeren Aromen von Glockenblumen und Wiesenkerbel, aber auch der stechende Gestank von Schweineställen.
    Wir hielten an einem Pub an, und während Robbie hineinging, um Getränke zu holen, setzten John und ich uns auf eine Bank am Fluss, beobachteten eine besorgte Entenmutter, die ihre Küken hütete, und lauschten den Rufen der Wasserhühner, die sich im Röhricht versteckten.
    » Ich frage mich, warum er ausgerechnet jetzt wiederauftaucht « , sagte John. » Wir warten immer noch darauf, dass er den Vertrag über die Produktion von Fallschirmseide unterzeichnet, weißt du. Es ist eine Weile her. «
    » Willst du ihn fragen? «
    » Du wirst es schon sehen « , sagte er grinsend und tippte sich an die Nase.
    Robbie kam mit