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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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zaghaft die Hände über den Tasten ausstreckte. Etwas berührte mein Herz, als ich zum ersten Mal die perfekten rosa Ovale seiner Nägel und die langen, schlanken Finger bemerkte.
    Er spielte ein paar Tonleitern, ging dann stockend zu einer Melodie über, in der ich die ersten Takte der Mondscheinsonate erkannte. Stefan schien sich durch das Stück zu quälen, schimpfte bei jedem Fehler und musste immer wieder innehalten, um sich an die nächsten Takte zu erinnern. Irgendwie klangen seine Bemühungen eher nach einem trübseligen Marsch als nach der ruhigen, mondbeschienenen Landschaft, die Beethoven im Sinn gehabt hatte.
    Nach ein paar Minuten nahm er die Hände von den Tasten und ließ seufzend den Kopf hängen. Mich überkam eine Welle des Mitgefühls mit diesem fremden, traurigen Jungen, der so weit von zu Hause fort war.
    » Spiel Jazz « , sagte Kurt.
    Stefan hob den Blick und sah mich an. » Sind Sie damit einverstanden? Mögen Sie Jazz? «
    » Sehr sogar « , sagte ich und lächelte ermutigend.
    Stefan wandte sich wieder den Tasten zu, atmete tief ein und intonierte einen ausgelassenen Ragtime. Da war nichts mehr von einem Kampf zu spüren wie bei dem Beethoven-Stück – jetzt schien ihn die Musik zu befreien, zu enthemmen. Seine Finger flogen so schnell über die Tasten, dass man ihnen nicht folgen konnte.
    » Erinnerst du dich an diese Swingschritte, Lily? « John sprang auf und ergriff meine Hand. Gemeinsam versuchten wir ungeschickt, den Tanz zusammenzukriegen, den wir an Silvester gelernt hatten. Kurt und Walter sahen eine Weile zu, dann gesellten sie sich zu uns und tanzten ihre eigene wilde Version, schwenkten ohne Rücksicht auf den Rhythmus Arme und Beine.
    Am Flügel rief Stefan: » Swingjugend, swing! Swing heil! « Kurt und Walter hoben wie zum Nazigruß die Arme und wiederholten: » Swing heil! Swing heil! «
    Mutter zog besorgt die Augenbrauen hoch.
    » Was soll das? « , rief ich Kurt zu.
    » Amerikanischer Jazz. Von den Nazis verboten « , gab Kurt zurück.
    » Warum ist er verboten? «
    Er zuckte die Achseln. » Stefan spielt ihn, weil … Was sagst du noch immer? «
    Stefan unterbrach seinen Vortrag und drehte sich zu uns um. In der plötzlichen Stille war seine Stimme fest und klar. » Wir spielen Jazz, weil es nicht erlaubt ist. «
    » Wer ist ›wir‹, Stefan? « , fragte John.
    » Die Swingjugend. «
    » Bis sie verhaftet wurden « , sagte Kurt fast unhörbar.
    » Verhaftet? « , wiederholte ich. Für einen Moment war mir die tiefere Bedeutung des Wortes nicht bewusst.
    Stefan sah Kurt finster an. » Sie haben uns nur zusammengeschlagen. Als Warnung. «
    Meine Eltern, John und ich waren schockiert. Keiner von uns wusste darauf etwas zu sagen. Meine Gedanken wirbelten in meinem Kopf herum – einmal mehr fiel es mir schwer zu begreifen, was da drüben in Deutschland genau passierte. Wie konnte die Polizei so brutal gegen Jungen und junge Männer vorgehen, bloß weil sie Musik machten? Das Gefühl von Bedrohung schien wie Giftgas unsichtbar in den Raum zu dringen.
    Mutter fragte behutsam nach. » Willst du damit sagen, dass die Polizei dich geschlagen und ins Gefängnis gesteckt hat, Stefan? «
    Stefan nickte. » Ja, die Gestapo « , sagte er. » Aber zum Glück ließen sie uns schnell wieder frei. Es sollte nur eine Warnung sein. « Er schwieg einen Moment und fuhr dann fort: » Auch deshalb musste ich Deutschland verlassen. Swingjugend und Jude, das war einfach zu viel. «
    » Armer Junge « , murmelte Mutter. » Kein Wunder … «
    » Wart ihr alle Mitglieder … dieser Gruppe? « , stotterte ich.
    » Nein « , sagte Kurt. » Wir nicht. Bei uns auf dem Land gab es so was nicht. «
    » Bis Stefan uns davon erzählte, hatten wir keine Ahnung, dass es diese Gruppen gab. Wir kannten nicht mal den Namen: Swingjugend … « , ergänzte Walter.
    » Vielleicht könnten wir hier ja unsere eigene Gruppe gründen, in Westbury? « Kurt lächelte, und die Anspannung im Raum verflog. » Darf Stefan noch ein bisschen spielen? « , fragte er an Vater gewandt.
    Diesmal hörten wir schweigend zu, denn es kam uns nicht richtig vor zu tanzen. Ich dachte darüber nach, was die Jungen uns erzählt hatten, und begann zu verstehen, warum diese Musik für Stefan so wichtig war. Der Stutzflügel hatte noch nie ein so eindringliches Spiel erlebt, in dem so viel Herzblut lag. Ein Akt des Protestes und des Widerstands und zugleich ein Bekenntnis zum Recht auf Selbstbestimmung.
    Als Stefan geendet hatte,

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