Das Kastanienhaus
aber sie sind noch nicht ganz fertig. Komm rein. «
Die schräge Decke ihrer kleinen Dachwohnung war so niedrig, dass ich den Kopf einziehen musste. Von den Möbeln passte nichts wirklich zusammen, und dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, herrschte eine sehr persönliche Atmosphäre.
» Es ist total gemütlich « , sagte ich. » Wie lange wohnst du schon hier? «
» Sechs Jahre ungefähr. Seit ich nach Westbury gekommen bin « , erwiderte sie. » Nimm Platz. «
» Und warum hat es dich hierher verschlagen? « , fragte ich. » Du hast es mir nie erzählt. «
» Das ist eine lange Geschichte. « Sie seufzte.
» Du weißt fast alles über meine Familie « , sagte ich. » Ich hingegen über deine so gut wie nichts. Es wäre bloß gerecht, das zu ändern. «
» Wie viel Zeit gibst du mir? «
» Fang einfach mal an, bis die Scones fertig sind. «
» In Ordnung « , sagte sie und setzte sich gemütlich auf dem Sofa zurecht. Sie kam mir in ihrer eigenen Umgebung so viel sanfter und wärmer, irgendwie verletzlicher vor. Die Sonnenstrahlen, die durch das Fenster hereinfielen, zauberten Lichter in ihre Locken und ließen sie wie einen fuchsroten Heiligenschein leuchten – sie sah beinahe schön aus.
» Meine Familie ist … war ein bisschen ungewöhnlich « , begann sie leicht zögernd, und ich fühlte mich nicht ganz wohl in meiner Haut. Was würde sie mir offenbaren, fragte ich mich.
» Mein Großvater war ein wohlhabender Mann, ein Seidenhändler, und mein Vater stieg wie üblich in sein Geschäft ein « , fuhr sie fort. » Er hatte ein geschicktes Händchen für Geschäfte und Geld und mehrte das Vermögen durch Börsenspekulationen, aber wirklich glücklich machte ihn das nicht. Weil er sich immer als verhinderter Künstler fühlte. Also nahm er Kunstunterricht und verliebte sich in seine Lehrerin, meine Mutter. «
» Und auf die Konventionen hat er gepfiffen? Wie sympathisch. «
» Nicht ganz. Anfangs arbeitete er weiter im väterlichen Geschäft und betrieb seine Kunst nur als Hobby – doch irgendwann hat er alles geschmissen, verkaufte seine Anteile an dem Unternehmen und erwarb ein großes, weitläufiges altes Haus in Essex. Dort kam ich dann zur Welt. Er sagte, er wolle sein Leben der Kunst und der Liebe widmen. Irgendwann hat Großvater ihn offiziell enterbt, aber zum Glück besaß mein Vater noch eigenes Geld aus seinen Aktiengeschäften. «
» Was für ein romantischer Mann « , sagte ich.
» So könnte man es nennen. « Sie seufzte. » Er war gewiss ein Charmeur, in mancher Hinsicht durchaus geschäftstüchtig, aber total nutzlos. Lange lief es ganz gut, eigentlich bis zum großen Börsenkrach. Da war das ganze Geld weg, und ich musste die Kunsthochschule verlassen und mir einen Job als Kellnerin suchen, um die Familie zu unterstützen. Im Laufe der nächsten zwei, drei Jahre wurde er immer unglücklicher und fing an zu trinken. « Sie hielt inne und wickelte sich geistesabwesend eine Locke um den Finger, sie schaute mich an, ohne mich wahrzunehmen.
» Alkohol ist ein Teufelszeug, Lily « , sagte sie nach einer Weile. »Er hält die Leute fest im Griff und saugt ihnen die Seele aus. Am Ende war er die meiste Zeit betrunken, und Mutter hat ihn aus dem Haus geworfen. Wir haben seitdem nichts mehr von ihm gehört. « Sie blickte aus dem Fenster, als könnte er jeden Moment auftauchen.
Am besten fragte ich nicht weiter, dachte ich. » Ihr Armen. Wo ist deine Mutter jetzt? «
» Sie hat das Haus verkauft und wohnt in der Nähe ihrer Schwester in Dorset. Ich schicke ihr gelegentlich einen Scheck, wenn ich etwas erübrigen kann. Wir hatten damals buchstäblich keinen Penny mehr. Zum Glück erklärte Großvater sich bereit, mir bei der Jobsuche behilflich zu sein. Er hat mich dann Harold vorgestellt – in der Seidenbranche kennt man sich eben –, und dein Vater bot mir einen Job in der Designabteilung hier in Westbury an. «
» In der Designabteilung? Und wie bist du dann zum Weben gekommen? «
» Um ein guter Designer zu sein, muss man eine Menge über Webtechniken und den ganzen Produktionsprozess wissen, und ich hatte davon nicht die geringste Ahnung. Deshalb schlug Harold mir vor, zuerst eine Weberlehre zu machen, und es ergab sich dann so, dass ich dabeiblieb. Ich liebte die Arbeit auf Anhieb. Den Umgang mit der Seide ebenso wie mit den Webmaschinen. Ich habe meine Entscheidung nie bereut. «
» Und jetzt bist du stellvertretende Leiterin der Weberei. «
» Ich hatte Glück. Und ich bin
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