Das Kastanienhaus
bist die Tochter des Chefs. Sei einfach vorsichtig, denn es könnte dem Jungen schaden, und er hat, weiß Gott, schon genug mitgemacht. «
» Hast du mich deshalb zu dir eingeladen? Um mich zu warnen, nichts mit Stefan anzufangen? « , fragte ich verunsichert.
» Nein … Na ja, ein bisschen vielleicht « , gab sie mit einem entschuldigenden Lächeln zu. » Ich dachte einfach, ich sollte dich darauf ansprechen, bevor Harold von der Sache Wind bekommt. Aber ich habe dich nicht nur deshalb eingeladen – vor allem wollte ich dich näher kennenlernen. Vielleicht können wir ja Freundinnen werden – jetzt, wo du offenbar ein Weilchen hierzubleiben scheinst. «
Unsicher, wie ich reagieren sollte, nickte ich. Sagte, ich fände es ebenfalls schön, sie zur Freundin zu haben, murmelte etwas von irgendwelchen dringenden Besorgungen und verabschiedete mich von ihr.
Ich machte einen Umweg, als ich nach Hause ging, um das Chaos in meinem Kopf zu ordnen und mein weiteres Verhalten zu überdenken. Wenn ich an Stefan dachte, wurde mir ganz leicht ums Herz, und ich wäre am liebsten vor lauter Glück die Straße entlanggehüpft. Trotzdem wusste ich, dass Gwen recht hatte mit ihren Bedenken, und ihr Rat, vorsichtig zu sein, war nur gut gemeint. Vorsicht ja, dachte ich, aber kein Verzicht. Nicht nachdem ich von seiner Zuneigung erfahren hatte. Warum musste das Leben bloß so kompliziert sein?
Nach wie vor beschäftigte mich auch Gwens eigene Enthüllung. Weil ich beim besten Willen damit nicht umzugehen wusste, beschloss ich, diese Information einfach zu verdrängen und so zu tun, als hätte ich nie davon gehört. Zumal sie mir an diesem Nachmittag eine ganz neue Seite von sich gezeigt hatte, die ich sehr mochte. Eine warmherzige, ausgeglichene Frau, humorvoll, klug und aufrichtig, die ich gerne zur Freundin hätte.
Als ich zu Hause ankam, war alles schlagartig vergessen, wurde bedeutungslos angesichts der Topmeldung in den Sechsuhrnachrichten.
Chamberlain hatte Hitler ein Ultimatum gestellt.
Kapitel 9
Seide hat immer wieder in Kriegszeiten eine Rolle gespielt. Die Seidenkriege von 1514 führten zu einer Blockade der Seidenstraße von China in den Mittelmeerraum durch den Mongolenherrscher Selim I. (1512 – 1520). Die Perser leiteten ihre Karawanen über Aleppo um, aber Selim konfiszierte alle persischen Güter, die durch das Osmanische Reich transportiert wurden. Die nachfolgende Verknappung bewirkte im Westen eine Wertsteigerung reiner Seide.
Aus: Die Geschichte der Seide von Harold Verner
» Es ist das Böse, gegen das wir kämpfen werden – brutale Gewalt, bewusste Böswilligkeit, Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Verfolgung –, und dagegen wird das Recht obsiegen. «
Es war der 3. September 1939.
Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen wollte Chamberlain, nachdem er so lange gezögert und so vieles hingenommen hatte, nicht mehr länger zusehen und forderte die deutsche Regierung ultimativ zur Einstellung aller Feindseligkeiten auf.
Gegen Ende seiner Rede klang Chamberlains Stimme beinahe so, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Mir selbst war sehr danach. Vater und John saßen mit versteinertem Gesicht in ihren Sesseln, während Mutter und ich auf Kissen am Boden hockten und uns bei den Händen hielten.
Stefan, Kurt und Walter, die eigens hergekommen waren, saßen nebeneinander auf dem Sofa. Für sie musste es schrecklich sein, denn ein Krieg würde die Situation ihrer zurückgebliebenen Familien unendlich viel schwerer machen. Stefan hatte sich vorgebeugt und stützte das Gesicht in die Hände, Kurt neben ihm wirkte wie erstarrt, und Walter kämpfte mit den Tränen. Als Chamberlains letzte Worte verklangen, hätte man eine Stecknadel im Zimmer fallen hören können.
Kurt durchbrach die Stille. » So, dann befinden sich unsere Länder jetzt also im Krieg « , sagte er leise.
» So dürfen wir nicht reden, Kurt « , sagte Vater mit Nachdruck.
» Brutale Gewalt und bewusste Böswilligkeit. Das hat Ihr Premierminister gesagt. « Kurt stand auf und fing an, auf und ab zu gehen wie ein Tiger in seinem Käfig.
» Es ist ein Kampf um Gerechtigkeit und Menschenrechte « , sagte John leise. » Denk dran, was Hitler mit euren Leuten macht, Kurt. «
» Möchte jemand einen Sherry? Oder etwas Stärkeres? « , fragte Vater, doch niemand antwortete ihm.
» Eine Intervention der Westmächte ist unsere einzige Hoffnung « , sagte Stefan ruhig, und sein Gesicht war noch blasser als sonst. » Ich werde
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