Das Kastanienhaus
drei? «
Der Constable deutete mit dem Finger nach oben, und ich hetzte die schmale Treppe hoch, die Stefan und ich erst gestern Abend hinaufgestiegen waren. Walter saß, den Kopf in die Hände gestützt, auf der obersten Stufe, und Kurt fand ich in ähnlicher Pose in dem Schlafzimmer, das er sich mit seinem Bruder teilte. Ich rannte hinüber zu Stefan. Auf dem Bett lagen ordentlich aufgereiht seine wenigen Besitztümer neben dem kleinen Lederkoffer mit seinen Initialen auf der Schließe. Die Wiesenblumen im Marmeladenglas fingen bereits an zu welken.
» Was ist los? «
Seine Miene war finster. » Wir stehen unter Arrest. «
» Was? Die nehmen euch mit? Wohin? «
Ich versuchte ihn zu umarmen, doch er stieß mich weg. » Die sagen, wir müssen mit ihnen gehen. Sie wollen uns nicht sagen, wohin. «
» Aber das kann nicht sein. Du bist Kategorie C, oder? Ein Flüchtling? Folglich stellst du keine Bedrohung dar. « In meinem Kopf drehte sich alles. Wie konnte so etwas möglich sein in einem Land wie England, das sich stolz einer langen demokratischen Tradition rühmte?
» Sie lassen nicht mit sich reden. Berufen sich nur auf ihren Befehl, uns mitzunehmen. «
» Euch alle drei? «
Er nickte niedergeschlagen.
Ich verstand das alles nicht. » Auch Kurt und Walter? « , hakte ich nach.
» Ja. «
» Aber Walter ist zu jung. «
» Er ist sechzehn. Und damit gilt er als erwachsen, sagen sie. «
» Und wohin bringen sie euch? «
Er zuckte die Schultern. » Das sagen sie uns nicht. « Seine Stimme klang, als hätte er sich bereits aufgegeben.
» Lass mich mit ihnen reden. «
» Tu das, vielleicht hören sie dir zumindest zu, weil du Engländerin bist « , sagte er verbittert.
Als ich die Treppe hinunterrannte, erschien Vater an der Haustür. » Was geht hier vor, Lily? « , fragte er.
Ich deutete auf die Hintertür, wo die beiden Männer standen und rauchten.
» Sie nehmen sie mit, alle drei « , sagte ich und bemühte mich, nicht in Tränen auszubrechen. » Wir müssen das verhindern. «
» Überlass es mir, Liebes « , sagte er, drückte den Rücken durch und ging durch die Küche zur Hintertür. Ich heftete mich an seine Fersen.
» Also, sehen Sie, meine Herren « , sagte er bestimmt, » ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir mitteilen könnten, was genau hier los ist. «
Constable Kilby antwortete als Erster. » Guten Tag, Mr. Verner. Tut mir leid, dass wir uns unter diesen Umständen wiedertreffen. Wir haben den Befehl erhalten, alle männlichen Ausländer über sechzehn Jahren, die aus Deutschland oder Österreich stammen, festzunehmen. Alle Kategorien, Sir, auch die Flüchtlinge, werden interniert. « Wieselgesicht schwieg. Ich fragte mich, wer er sein mochte.
» Aber sie sind bloß Jungen, jüdische Flüchtlinge « , schrie ich empört. » Welchen Schaden könnten sie schon anrichten? « Plötzlich erinnerte ich mich an Robbies Drohung und erschrak bis ins Mark. » Gab es möglicherweise irgendwelche Denunziationen? «
» Dazu können wir nichts sagen, Miss. Wir führen nur unseren Befehl aus. «
» Ich habe noch nie etwas derart Absurdes gehört « , sagte Vater. » Diese Jungs sind ausgebildete Facharbeiter für eine kriegswichtige Produktion – dahinter stehen Regierungsaufträge. Ich kann nicht auf sie verzichten, das müssen Sie einsehen. «
» Wie gesagt, ich bedaure sehr, Sir « , sagte der Constable. » Sie gelten nun einmal als feindliche Ausländer, und ich muss sie mitnehmen. «
» Und wenn ich das nicht zulasse? «
» Dann müsste ich Sie wegen Behinderung der Polizeiarbeit leider verhaften, Sir. «
Vater reckte den Kopf und wandte sich mit schneidender Stimme an den Constable. » Ich fürchte, Sie wissen nicht, was Sie tun. Offenbar ist Ihnen entgangen, dass ich persönlich mit einigen Mitgliedern des Stadtrates befreundet bin. Man wird in diesen Kreisen von Ihrem Verhalten nicht sehr beeindruckt sein. «
Jetzt trat Wieselgesicht vor, nahm Vaters Arm und zog ihn ein paar Schritte zur Seite. Ich folgte ihnen. Seine Stimme war aalglatt. » Entschuldigen Sie, Sir. Aber dürfte ich Sie bitten, mir genauestens Ihr Verhältnis zu diesen Deutschen zu erklären? «
» Ich bin ihr Arbeitgeber. Mein Name ist Harold Verner, und das ist meine Tochter Lily. Sie ist ebenfalls in unserer Firma tätig. Die drei Jungen sind seinerzeit im Rahmen der Aktion ›Kindertransport‹ nach England gekommen, und ich habe die Verantwortung für sie übernommen, ihnen ein Heim und Arbeit in meiner
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