Das Kastanienhaus
würde mich noch weiterdrehen.
Es war fast Weihnachten, bis wir wieder etwas von ihnen hörten. Sechs lange Monate, in denen ich mir Nacht für Nacht in meinem Zimmer jeden Moment, jede Empfindung, jede Geste und jedes Wort unseres kostbaren letzten gemeinsamen Abends in die Erinnerung zurückzurufen versuchte. Sechs Monate, in denen ich mich fragte, wo Stefan war und was er machte, in denen ich zu den Sternen und dem Mond hinaufsah und hoffte, dass auch er sie sehen konnte und an mich dachte. Sechs Monate nur halb erlebter Tage, tränenreicher Nächte und trostloser, schmerzhafter Leere – es war, als hätte man mir ein Stück meines Körpers geraubt. Ich vermied es, am Cottage vorbeizugehen, das wieder unbewohnt war und dessen dunkle Fenster wie tote Augen aussahen, die ein trauriges Geheimnis bewahrten. Stefans Federmäppchen versteckte ich ganz hinten in der Schublade meines Nachttischs.
Vater und ich versuchten herauszufinden, wohin man sie gebracht hatte, doch jedes Mal rannten wir gegen eine Mauer des Schweigens. Geheime Verschlusssache, hieß es. Wenn ich mich besonders deprimiert fühlte, grübelte ich immer wieder darüber nach, ob Robbie den Behörden einen Hinweis gegeben hatte, und erwog, ihn damit zu konfrontieren. Ich ließ es sein, denn zweifellos würde er jegliche Beteiligung leugnen und sich überdies bestätigt fühlen und triumphieren. Und das war das Letzte, was ich wollte. Natürlich musste ich sowieso vorsichtig sein, denn der Vertrag mit Cameron über die Regierungsaufträge hielt allein unsere Firma am Leben.
Als die Monate verstrichen, kamen mir meine Verschwörungstheorien zunehmend unwahrscheinlicher vor. Die traurige Wahrheit sah vermutlich einfach so aus, dass die Behörden alle aktenkundigen Deutschen internierten, selbst Menschen, die vor den Nazis geflohen waren wie die jüdischen Jugendlichen. Eine starre, herzlose, unsensible bürokratische Maßnahme, aber sonst nichts.
Seit dem Sommer flogen die Deutschen regelmäßig heftige Angriffe gegen englische Städte. Es gab erbitterte Luftschlachten und verheerende Bombardements. Immer öfter sahen wir Flugzeuge am Himmel, und trotzdem fühlte ich mich merkwürdig unbeteiligt. Als ginge mich das nichts an. Churchill versuchte mit Durchhalteparolen unsere Moral zu heben, doch meine Stimmung besserte sich erst durch einen kleinen blauen Luftpostbrief, auf dem ich Stefans ordentliche, verschnörkelte Handschrift erkannte und der eine lange Reise hinter sich hatte.
Hay Camp, Australien
7. Oktober 1940
Meine liebste Lilymaus,
ich hoffe, Dir geht es gut und dieser Brief kommt sicher bei Dir an. Wahrscheinlich wunderst Du Dich zu hören, dass ich in Australien bin. Wie wir hierherkamen, ist eine zu lange Geschichte, um sie jetzt aufzuschreiben. Viele Züge und Busse, dann zwei Monate lang ein schrecklich überfülltes Schiff namens Dunera . Es war sehr hart, aber wir haben es überlebt und sind vor drei Wochen hier angekommen.
Wir befinden uns in einem Lager, eingesperrt wie Kriminelle – koschere Schlachter, italienische Kellner, österreichische Akkordeonspieler und Jungs wie wir. Immerhin haben wir genug zu essen, und man behandelt uns gut. Nach der Reise ist Australien das reinste Paradies.
Warst Du jemals in der Wüste? Es ist heiß, und der Sand weht überall hinein, doch ich hatte nicht erwartet, dass es so schön ist. Jeden Morgen fliegen Scharen grüner Papageien über unser Lager, und die Sonnenuntergänge sind wie die Farben der Seide – Gold, Rot, Violett und Blau. Und nachts gibt es einen schönen Sternenhimmel, weit und hoch.
Das Schlimmste ist, nicht bei Dir zu sein, meine liebste Lily. Ich denke an uns, wie wir zusammen auf unserer Insel waren und den Himmel beobachtet haben. Oder in unserer Tennishütte. Es ist schwer zu ertragen, vor allem nachts. Ich bete, dass es Dir gut geht. Bitte schreib, wenn Du kannst.
Ich liebe Dich
Dein Stefan
Kapitel 15
Das Mittelalter war das Zeitalter der Seide. Wandernde Spielleute und Minnesänger erzählten in ihren Liedern und Balladen von galanten Abenteuern und heroischen Taten. Turniere wurden abgehalten. Seidene Banner wehten, und man tafelte in seidenen Zelten. Schwere Seidenschabracken schmückten die Pferde. Ritter erhielten eine seidene Banderole oder einen Seidenschal als Zeichen der Zuneigung von der Dame, die sie symbolisch im Zweikampf verteidigten.
Aus: Die Geschichte der Seide von Harold Verner
Weihnachten 1940 wurde für mich nur deshalb kein ganz trauriges
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