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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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mich abwenden, aber ich vermochte den Blick nicht von diesem schrecklichen Bild zu lösen. Der Mann zog jetzt vorsichtig die Ringe von den Fingern, steckte sie in einen braunen Umschlag, schrieb etwas mit einem Bleistiftstummel darauf und wickelte die Hand in eine weiße Hülle. Dann verstaute er alles in seiner Schultertasche und richtete sich auf, um seine Suche in den Ruinen fortzusetzen.
    Noch immer saß ich wie gelähmt da, konnte kaum glauben, was ich gesehen hatte. Und was es bedeutete, denn die Leiche dieser Frau lag wahrscheinlich noch unter den Trümmern, dachte ich mit Schaudern. Bis letzte Nacht hatte sie ihr gewohntes Leben gehabt, hatte gearbeitet, geschlafen, gegessen und versucht, sich trotz des Krieges ein bisschen Normalität zu bewahren, auch Freude, Liebe und Lachen. Binnen Sekunden wurde all das ausgelöscht. Ihre Familie hatte eine Schwester verloren oder eine Frau oder Mutter. Man würde ihre Identität vermutlich anhand der Ringe feststellen müssen. Ob man ihren Körper je fand und noch erkennen konnte? Wie viele tote oder sterbende Menschen mochten unter diesen Bergen aus Stein und Mörtel begraben sein, fragte ich mich. Unwillkürlich glitten meine Blicke über die Trümmerlandschaft, ebenso erfüllt von grausamer Faszination wie von Furcht.
    Vater kehrte mit zwei dampfenden Teebechern zurück. » Ist alles in Ordnung mit dir, mein Kind? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen. «
    » Ich glaube, das habe ich auch « , sagte ich und stand auf, um den Becher entgegenzunehmen. Der süße Tee war so heiß, dass ich mir die Zunge verbrannte, und der leichte Schmerz brachte mir in Erinnerung, dass ich noch fühlte und folglich lebte. Als ich Vater erzählte, was ich beobachtet hatte, fing ich unkontrolliert zu zittern an. Er drückte mich wieder auf die Mauer, setzte sich daneben und hielt mich im Arm, bis ich aufhörte zu schluchzen.
    » Ich wünschte, ich könnte dich vor alldem bewahren, Liebes. « Mein Kopf ruhte an seiner Brust, und ich spürte die Resonanz seiner Stimme als gleichmäßiges, tröstliches Vibrieren. » Es wird nicht ewig andauern, Lily, und wir werden es gemeinsam durchstehen, du und ich. «
    » Ich liebe dich, Vater « , sagte ich, hob den Kopf, um ihm die Wange zu küssen, und mir fiel auf, dass ich diese Worte seit meiner Kindheit nicht mehr zu ihm gesagt hatte.
    Er zog mich noch enger zu sich heran. » Ich liebe dich auch, und es bedeutet mir so viel, dass du dich für die Firma entschieden hast. Ohne dich käme ich nicht zurecht. Mit dir zusammenzuarbeiten, das ist das einzig Gute an diesem elenden Krieg. «
    » Ich wünschte, er wäre vorbei. « Wieder war ich den Tränen nahe.
    » Wir stehen das gemeinsam durch, Liebes « , sagte er. » John wird gesund nach Hause kommen, und dann kehren wir alle wieder zur Normalität zurück. Du wirst sehen. «
    Auch wenn ich nicht so recht an ein Ende der Schrecken glauben konnte, klammerte ich mich an die Hoffnung, dass es nicht nur leere Worte waren. An etwas musste man sich schließlich halten in dieser trostlosen Zeit.
    Schweigend tranken wir unseren Tee aus.
    » Wollen wir weitergehen? « , fragte er.
    Ich nickte.
    » Na, dann los « , sagte er. » Sehen wir uns an, was diese verdammten Deutschen mit unserem Büro angestellt haben. «
    Zunächst dachten wir, die Cheapside sei den schlimmsten Folgen der Bombardierung entgangen. Als wir am Mansion House um die Ecke bogen und die Poultry hinabschauten, schienen bloß wenige Gebäude zerstört zu sein. In der Ferne konnten wir wie eine Fata Morgana die rauchumhüllte Silhouette der Kuppel von St. Paul’s sehen. Schwer zu glauben, dass sie das Inferno unversehrt überstanden hatte.
    » Sieh nur « , sagte ich und deutete auf die Kuppel. » Das sollten wir als gutes Zeichen nehmen, oder? «
    Vater nickte. » Hoffen wir das Beste. «
    Wir gingen an Trümmerhaufen entlang oder mussten ihnen ausweichen, überquerten die King Street und zählten die Hausnummern, die wir passierten: fünfzehn, siebzehn, neunzehn, einundzwanzig. Dieser Block war intakt. Wir kamen zur Bread Street und zur Milk Street. Dreiundzwanzig, fünfundzwanzig, siebenundzwanzig, neunundzwanzig, einunddreißig. Ich blieb stehen, um durch die staubige Luft nach vorne zu blicken, und mich verließ der Mut. Wo die Hausnummern neununddreißig bis dreiundvierzig hätten sein sollen, klaffte eine große Lücke. Es sah aus, als ob in einem ansonsten intakten Gebiss ein großer Zahn fehlte.
    » Es ist

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