Das Kastanienhaus
du, Gott sei Dank, nicht ernstlich verletzt. «
Ein bisschen später half mir jemand, süßen Tee durch einen Strohhalm zu trinken. Es schmeckte köstlich.
» Vv…? «
» Sie sieht bald wieder nach Ihnen, Lily « , sagte eine beruhigende Stimme.
Beim nächsten Mal, als ich das Bewusstsein erlangte, wurden mir einige Kissen in den Rücken geschoben, und ich blickte auf die massigen Gestalten zweier Männer, die am Fußende meines Bettes standen. Vera hielt meine Hand und sprach sanft mit mir.
» Lily? «
» Mhm. «
» Erinnerst du dich an irgendetwas? «
Ich schüttelte den Kopf.
» Euer Haus in der Cheapside wurde bei einem Bombenangriff zerstört. Und dann sind noch die Trümmer eingestürzt. Erinnerst du dich? Dein Vater war da und Beryl, du weißt schon, aus dem Londoner Büro. «
Die Mauer. O Gott, jetzt erinnerte ich mich – die ganze große Mauer stürzte ein. Ich sah sie vor meinem inneren Auge noch einmal fallen. » Vtr? « , stammelte ich.
» Tut mir leid, sie haben es nicht geschafft « , sagte Vera leise und tröstend.
Dann die tiefe Stimme eines Mannes. » Ihr Vater war sehr mutig und starb als Held, Miss Verner. Er hat versucht, Mrs. Madeley zu retten, erzählte uns der Luftschutzhelfer. «
Ich schloss die Augen, schaltete ab und atmete bloß automatisch weiter: ein und aus, ein und aus. Bildete mir ein, das alles sei nur ein schrecklicher Albtraum, aus dem ich bald erwachen würde. Es konnte ja nicht sein, dass ich diese Worte wirklich gehört hatte und diese Dinge tatsächlich passiert waren.
» Ich bin mir sicher, dass er nicht leiden musste « , drang Veras Stimme wieder zu mir durch. » Die Rettungssanitäter konnten nichts mehr für ihn tun. Er war tot, als sie bei ihm ankamen. Beryl ebenfalls. «
Anschließend verabreichten sie mir wohl ein Beruhigungsmittel, denn mehr bekam ich von dem Besuch der Männer nicht mit.
Als ich aufwachte, war eine andere Schwester bei mir, die mir Tee anbot. Mein Gesicht tat immer noch schrecklich weh, und ich bekam den Mund nicht auf. » Vtr? « , nuschelte ich. Sie schaute mich irritiert an. » Erinnern Sie sich nicht an die beiden Polizisten, die gestern hier waren? An das, was sie Ihnen erzählt haben? «
Jetzt war es an mir, verwirrt zu sein. Woher wusste sie von meinem Albtraum? » Vera ist bald zurück und wird mit Ihnen reden « , sagte sie ruhig.
Das tat meine Freundin dann auch. Setzte sich an mein Bett und erklärte alles noch einmal. Ich schloss die Augen und hörte zu, weigerte mich allerdings, es zu akzeptieren. Irgendwann schlug ich die Augen auf, und der Anblick ihrer sorgenvollen Miene verriet mir die Wahrheit. Ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe. Meine Ohren rauschten, mein Körper fing an zu zittern, und in meinen Kopf kehrte der hämmernde Schmerz zurück. Erst dann kamen die Tränen. Ich konnte nicht aufhören zu weinen. Vera setzte sich aufs Bett und hielt mich, wiegte mich eine Ewigkeit, bis ich mich ein wenig beruhigte. Als sie jedoch gehen musste, tat sich erneut ein schwarzes Loch vor mir auf, und die Verzweiflung kehrte zurück. Irgendwann schlief ich, erschöpft und leer vom vielen Weinen, ein, bloß um mich beim Aufwachen demselben Albtraum gegenüberzusehen.
Jeden Tag kam sie immer wieder zu mir, trotz ihrer anstrengenden Schichten auf einer anderen Station. Sie redete mit mir und tat ihr Bestes, um mich von meinem Elend abzulenken. Nur konnte ich mir eine Welt ohne meinen Vater nicht vorstellen, sooft sie auch beteuerte, dass alle mir helfen und sich um mich kümmern würden. Das Leben müsse weitergehen, sagte sie, aber ich glaubte ihr nicht.
Auch verstand ich nicht, warum Mutter mich nicht besuchte – wo ich sie doch so dringend brauchte. Mit ihrer sanften, liebevollen Art hatte sie so manchen Kummer in meiner Kindheit geheilt. Jeden Tag zur Besuchszeit war ich enttäuscht.
» Mtr? « , fragte ich Vera.
» Sie ist ein bisschen zu schwach auf den Beinen « , sagte sie. » Gwen kümmert sich um sie. Und John wird so schnell wie möglich nach Hause kommen. «
John. Zu hören, dass er bald heimkehrte, beruhigte mich. Zumindest war dann jemand da, der sich um alles kümmerte.
Als Vera das nächste Mal kam, erzählte sie mir Genaueres über meine Verletzung. Ein Ziegelstein hatte mich seitlich im Gesicht getroffen und mir den Kiefer gebrochen. Er war verdrahtet worden, und solange die Drähte drin waren, konnte ich weder richtig sprechen noch essen und trinken. Selbst die Suppe musste ich durch einen Strohhalm zu
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