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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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meinem mühseligen Aufstieg, bemerkte ich, dass ich mir Hände und Knie blutig aufgeschürft hatte. Doch ich spürte keinen Schmerz.
    Vor mir auf der Kuppe des gigantischen Schutthaufens sah ich Vater neben Beryls leblosem Körper knien. Sanft drehte er sie um und bettete ihren Kopf auf seine Beine, strich ihr dunkle Haarsträhnen aus ihrem staubbedeckten Gesicht. Ihre Arme fielen schlaff zur Seite wie die einer Lumpenpuppe.
    Er blickte auf und rief: » Hol Hilfe, Lily. Sie ist schwer verletzt. Ein Arzt muss kommen und ein Krankenwagen … «
    » Ja, Vater, das können wir machen, doch du musst erst einmal runterkommen, bis Hilfe da ist. «
    » Ich kann sie nicht einfach hier liegen lassen « , sagte er. » Hilf mir, sie wegzutragen. «
    Ich war gerade wieder losgeklettert, als ein noch viel lauteres und längeres Grollen als zuvor einsetzte und den ganzen Boden ringsum zum Beben brachte.
    » Komm runter, Vater! Sofort! « Ich schrie aus Leibeskräften, aber meine Worte wurden von dem furchterregenden Donnern übertönt. Instinktiv kauerte ich mich zusammen und hielt schützend die Hände über meinen Kopf, dabei vorsichtig nach oben spähend. Ich sah, wie weitere Teile der rückwärtigen Wand sich zu bewegen begannen, schloss die Augen und hielt den Atem an. Als sie auf die Trümmer stürzten, legte sich erneut eine Wolke aus undurchdringlichem, beißendem Staub über das gesamte Areal.
    Sobald die Sicht sich besserte, erkannte ich, dass Vater zum Glück nichts passiert war. Ein paar Meter von mir entfernt beugte er sich über Beryl und versuchte sie hochzuheben. Er wirkte völlig unbeeindruckt von der tödlichen Gefahr, in der er gerade geschwebt hatte. » Komm weg da, Vater! Bitte! Komm runter « , schrie ich erneut und hustete den Staub aus. Er beachtete mich nicht, sondern bemühte sich weiterhin unverdrossen um Beryls leblosen Körper. Mir blieb keine andere Wahl, als zu ihm zu gehen, denn alleine schaffte er es nicht. Und ohne Beryl würde er nicht weggehen.
    Taumelnd rappelte ich mich auf, doch bevor ich ihn erreichte, hörte ich ein neues Geräusch. Drohender und unheimlicher als die vorhergehenden – es klang wie das tiefe, kehlige Knurren einer wütenden Bestie. Und ich sah den Riss in der hohen Mauer, der immer breiter wurde. Erneut schrie ich Vater eine Warnung zu, dann duckte ich mich Schutz suchend zwischen die Trümmer. Für ein paar Sekunden war kein Laut zu hören, doch es war die Ruhe vor dem Sturm. Ich drehte meinen Kopf ein wenig, schaute nach oben zu dem Riss. Inzwischen war er so breit, dass man den blauen Himmel hindurchscheinen sah.
    Starr vor Entsetzen beobachtete ich, wie sich ein riesiges Stück der Wand wie in Zeitlupe löste, um neunzig Grad aus der Vertikalen in die Horizontale kippte und als Ganzes nach unten stürzte. Ohne auseinanderzubrechen, raste es auf uns zu wie ein außer Kontrolle geratener großer Aufzug. Ein letztes Mal hörte ich mich nach Vater rufen. Ansonsten war ich wie gelähmt, konnte mich nicht vom Fleck bewegen, um mich selbst in Sicherheit zu bringen. Einen langen, qualvollen Moment kam die Welt zum Stillstand. Nichts rührte sich.
    Ich wurde von einer massiven Druckwelle zu Boden gerissen. Und dann wurde alles um mich herum schwarz.
    Als ich die Augen aufschlug, lag ich in einem weißen Bett in einem weißen Raum. Mein Kopf fühlte sich an wie ein Klumpen Blei und schmerzte so höllisch, dass ich gleich wieder die Augen schloss. Jemand berührte meine Schulter, und eine vertraute Stimme flüsterte: » Lily. Wach auf. Öffne die Augen. Ich bin’s, Vera. «
    Ich versuchte etwas zu sagen, aber es kam nur ein trockenes Krächzen heraus.
    » Du bist im Krankenhaus. Genau in dem Moment, als mein Dienst begann, wurdest du eingeliefert. Du bist jetzt in Sicherheit – sofern du es für sicher hältst, von mir gepflegt zu werden. «
    Mir war nicht nach Scherzen zumute. Vera rüttelte wieder an meiner Schulter. » Komm schon, mach die Augen auf. « Vera ließ nicht locker, obwohl ich immer wieder in meinen Dämmerschlaf zurückglitt. Irgendwann hörte ich sie sagen: » Gott sei Dank. Wir dachten schon, du wärst wieder weg. «
    Ich wollte meinen Mund öffnen, doch es ging nicht, und sobald ich meinen Kiefer bewegte, fühlte es sich an, als würden heiße Nadeln sich geradewegs in mein Gehirn bohren.
    » Ja, du bist noch da « , sagte sie und streichelte meine Hand. » Du hast eine Gehirnerschütterung, und dein Gesicht sieht ein bisschen mitgenommen aus – ansonsten bist

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