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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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über tausend Feuer. Viele davon brennen noch immer, trotz der heroischen Bemühungen unserer Feuerwehren, deren Arbeit durch zerstörte Wasserleitungen und einen ungewöhnlich niedrigen Wasserpegel der Themse erschwert wird. «
    Der Zug war überfüllt. Geschäftsleute wollten in die City, Soldaten mussten nach dem Weihnachtsurlaub zu ihren Einheiten zurück. Eine fast makabere Sensationsgier trat unter den Fahrgästen zutage, denn sie redeten über die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Nacht, als tauschten sie Eindrücke über einen Kinofilm aus.
    » Sollen dieses Mal buchstäblich Hunderte von den Scheißdingern gewesen sein. «
    » Die Flak hatte keine Chance. «
    » Wir können sie offenbar nicht aufhalten, was? «
    » Haben Sie von den Lebensmittellagern gehört, die neulich getroffen wurden? « , fragte einer.
    » Ja, die Erdnüsse dort sollen gut geröstet gewesen sein « , antwortete ein anderer Mann, und beide lachten freudlos.
    » Und die ganzen Butterrationen, die geschmolzen sind? Ströme von dem Zeug flossen zwischen den Trümmern herum, erzählt man sich. Die Hausfrauen waren draußen und haben es von der Straße gekratzt. «
    » Das kann ich ihnen nicht verdenken, muss schlimm sein. «
    » Es gibt nicht genügend Rettungskräfte. Leute sterben unter dem Schutt. «
    » Irgendwas Neues zu den Verlusten? «
    Während ihre Unterhaltung dahinplätscherte, sah ich zu, wie der Morgennebel sich langsam über kleinen Dörfern, Bauernhöfen, Feldern und Wäldern hob, alle so ruhig und vom Krieg unberührt, und fragte mich düster, wie lange wir wohl noch standhalten würden, bis die Deutschen uns überfielen. Würde es hier dann anders aussehen? Würden sie die Hecken und Knicks abholzen und breite Straßen durchs Land schlagen für ihre Panzer? Einmal mehr war ich froh, Stefan in Sicherheit zu wissen, weit weg von der allgegenwärtigen Bedrohung.
    Vater sah von seiner Zeitung auf. » Ich hätte das Londoner Büro früher schließen und die Archive räumen müssen « , sagte er leise.
    » Du darfst dir nicht die Schuld geben « , flüsterte ich zurück. » Niemand wurde verletzt, soweit wir wissen. «
    Verner’s & Sons, Silk Merchants, agierte seit 1740 von London aus, zuerst in Spitalfields und seit fünfzig Jahren in der City. Von hier aus verhandelte man mit Kunden im In- und Ausland, kaufte und verkaufte rohe und gewebte Seide – der gesamte kaufmännische Bereich, einschließlich der Buchhaltung, wurde hier betreut. London war der Kopf der Firma, Westbury lediglich die Produktionsstätte. Nach den ersten Luftangriffen hatte Vater vorgeschlagen, London vorübergehend zu verlassen und alles nach Westbury zu verlagern, aber die Mitarbeiter zögerten. Schließlich hatten sie ihre Wohnungen, ihre Familien in London. Kurz vor Weihnachten hatte Vater dann ein Machtwort gesprochen und Order gegeben, alles zu verpacken und den Umzug vorzubereiten, der in wenigen Tagen hätte stattfinden sollen. Jetzt war es zu spät.
    Die Sonne brach durch den Nebel, doch vor uns, Richtung London, war der Himmel durch gelbliche Rauchschwaden verhüllt. Langsamer als sonst fuhr der Zug in die Liverpool Street Station ein, und als wir ankamen, sahen wir auch, warum. Im Bahnhof herrschte totales Durcheinander. Die Bahnsteige waren voller Leute, die aus London hinauswollten, sodass praktisch kein Durchkommen war. Wir drängten uns durch die Menschenmenge zur U-Bahn-Station, aber die Bahnen fuhren nicht. Wegen Bombardierung gesperrt, stand auf einem hastig mit der Hand geschriebenen Schild. Am Busbahnhof parkten ein Dutzend rote Doppeldeckerbusse und fuhren ebenfalls nirgendwohin. Der Taxistand war leer.
    » Sieht aus, als müssten wir uns auf Schusters Rappen durchschlagen « , sagte Vater. » Schaffst du das? «
    Ich nickte. Ich war die Strecke zur Cheapside erst vor einigen Monaten mit ihm gegangen, es waren bloß ein paar Blocks. » Dauert ja bloß zehn Minuten, nicht wahr? «
    Als wir aus dem Bahnhofsgebäude traten, traf uns der Schlag. Die Straßen waren nicht wiederzuerkennen – soweit das Auge reichte, sahen wir nichts als Schutthaufen, unterbrochen von Kratern und Ruinen. Wir suchten nach vertrauten Orientierungspunkten, doch es gab keine. London kam uns vor wie ein fremder Ort und völlig chaotisch dazu. Die Stadt war umgestaltet worden. Es erinnerte mich an die erschreckenden Darstellungen der Hölle, wie ich sie von den farbigen Illustrationen in unserer alten Familienbibel kannte.
    Vater nahm meine Hand und

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