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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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einundvierzig. « Vaters Stimme klang belegt. Wir taumelten vorwärts und blieben schließlich bestürzt am Fuß einer Pyramide aus Ziegeln, Holz und Stein stehen, die während der letzten fünfzig Jahre die Zentrale von Verner’s & Sons gewesen war. Die rückwärtige Wand ragte einsam über den Trümmern auf. In den Wänden der stehen gebliebenen Nachbargebäude sah man überall Löcher.
    Ich schaute Vater an. Er wirkte mit einem Mal eingefallen und kraftlos, als könnte der nächste Windstoß ihn umblasen. Ich nahm seine Hand, doch für den Moment schien nichts zu ihm durchzudringen. Er schien gefangen in seinem Kummer, unzugänglich für Worte des Trostes. Aber konnte es den in dieser Situation überhaupt geben?
    Ich fragte mich, was wir tun sollten, denn zu retten gab es hier nichts mehr. Das Gebäude mit allem Inventar war völlig zerstört. Wir konnten bloß dankbar sein, dass zumindest keine Menschenleben beklagt werden mussten. Nach Beryls Aussage war niemand im Haus gewesen.
    Plötzlich bemerkte ich eine Gestalt in einem roten Mantel, die durch die Trümmer kletterte. Auch Vater sah es und schüttelte seine Erstarrung schlagartig ab, stürmte auf den Schutthaufen zu: » Beryl « , rief er, so laut er konnte. Dann noch einmal: » Beryl, gehen Sie da runter! Es ist zu gefährlich! «
    Sie aber dachte nicht daran, drehte sich zu uns um und deutete nach unten. » Ich kann ein paar der Kisten sehen, die wir gepackt haben, Harold. « Und ohne eine Antwort abzuwarten, grub sie aufs Neue fieberhaft in den Trümmern.
    In diesem Augenblick ertönte wie ferner Donner ein leises, fast unhörbares Grollen. Ein paar Mörtelbrocken lösten sich aus der beschädigten Wand des benachbarten Gebäudes und stürzten nach unten. Außer dass sie eine Staubwolke aufwirbelten, passierte nichts.
    Hustend blieb Vater am Fuß des Hügels stehen und klopfte sich den Mörtel vom Mantel. Ich eilte zu ihm, dabei den Arm schützend vors Gesicht gelegt.
    Als der Staub sich legte, sahen wir auch Beryl wieder, die unbeirrt noch immer auf den Knien lag, Steine herauszog und beiseitewarf und ganz offensichtlich nicht an ihre eigene Sicherheit dachte. Sie wirkte völlig besessen und nicht in der Lage, die Sinnlosigkeit ihres Tuns einzusehen. Getrieben von einer völlig absurden Hoffnung, grub sie weiter nach den Kisten, die sie erst vor ein paar Tagen gepackt hatte. Als seien diese das Kostbarste auf der Welt.
    » Um Himmels willen, Beryl, kommen Sie da runter « , schrie Vater erneut. » Vergessen Sie endlich die Kisten, und kommen Sie her! «
    Ein kurzer Moment der Stille trat ein. Dann ein erneutes Grollen. Wir blickten nach oben, wo sich gerade weitere Ziegelsteine lösten und schließlich in den Trümmern landeten. Jetzt endlich schien Beryl die Gefahr zu begreifen, in der sie schwebte, und schickte sich an, die Schuttberge zu verlassen und zu uns an den sicheren Rand des Grundstücks zu kommen.
    Es war zu spät. Ein plötzlicher, ohrenbetäubender Donnerschlag kündigte an, dass Teile der rückwärtigen Mauer einstürzten. » Aufpassen! « Mein Schrei hallte in den Ruinen wider. Für eine Sekunde schaute Beryl mit bleichem, ausdruckslosem Gesicht zu uns herüber, dann kippte sie vornüber. Ganz langsam, wie in Zeitlupe fast. Einen Augenblick lang glaubte ich, sie sei bloß gestolpert, doch sie bewegte sich nicht mehr. Lag reglos da in ihrem roten Mantel, der wie ein Blutfleck in all dem Grau aussah und mich an die rote Farbe erinnerte, mit der bösartige Menschen das Cottage beschmiert hatten.
    Es dauerte ein paar Sekunden, bis wir beide verstanden, was passiert war. » Schnell, sie ist vermutlich am Kopf getroffen worden « , rief Vater und schickte sich wieder an, den Schuttberg hinaufzuklettern. Ich rannte ihm nach, versuchte seine Hand zu packen und ihn zurückzuhalten, aber er wehrte mich ab.
    » Halt, Vater! Bleib stehen, um Himmels willen! Jeden Moment können neue Trümmer herunterfallen. « Ich blickte mich panisch um. War denn nirgendwo ein Luftschutzhelfer oder ein Polizist in Sicht? » Hilfe! Wir brauchen Hilfe! « Meine Rufe verhallten ungehört, die Straße schien vollkommen verwaist. Ohne länger nachzudenken, wie gefährlich es war, setzte ich mich ebenfalls in Bewegung. Mein einziger Gedanke galt Vater – ich musste ihn in Sicherheit bringen.
    Die Trümmer waren tückisch, kamen mir vor wie ein fast unbezwingbarer Berg mit Schrunden und zerklüftetem Gestein. Ständig rutschte ich aus, und als ich kurz innehielt bei

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