Das Kastanienhaus
drückte sie. Wir waren beide zu sehr erschüttert, um etwas zu sagen. An jeder Ecke, an jeder Biegung taten sich neue Schrecken auf. Wir sahen Wohnungen und Büros, denen die Außenmauern fehlten, die ansonsten aber fast intakt wirkten. Da standen Schreibtische, Schränke und Betten, und auch Vorhänge und Teppiche befanden sich noch am richtigen Platz.
Im obersten Stockwerk eines Hauses war eine Küche zu erkennen. Herd und Kühlschrank, Stühle und Tisch, der mit blau-weißem Geschirr, mit Tellern und Schüsseln, gedeckt war. Als würden die Bewohner im nächsten Moment hereinkommen. Im Badezimmer nebenan hing noch der Spiegel über dem Waschbecken, und die Handtücher lagen ordentlich zusammengelegt auf einem kleinen Regal.
Kurz darauf entdeckten wir an einer Wand einen Bus, der auf die Seite gekippt war. Er wirkte auf mich wie ein Spielzeug, das ein Riese achtlos hingeworfen hatte. Durch die geborstenen, rußigen Fenster konnten wir die leeren Sitzreihen sehen. Ich betete, dass niemand dort gesessen hatte.
Nach einer Weile räusperte Vater sich.
» Zur Hölle « , sagte er. » Meinst du, wir finden unseren Weg durch dieses Chaos? «
Mir war inzwischen nach Weinen zumute und nach Fortlaufen, um diese Bilder der Verwüstung so schnell wie möglich zu vergessen. Trotzdem hörte ich mich sagen: » Wir müssen irgendwie zur Cheapside kommen. «
Also gingen wir wieder los, konzentrierten uns allein darauf, einen Weg durch den Schutt zu finden. Wir schauten wenig nach links und rechts, und das half uns, unsere Beklemmung vorübergehend zu verdrängen. Die Luft war erfüllt von erstickendem Mörtelstaub und beißendem Rauch, denn noch immer schwelten unter dem Schutt Reste der gewaltigen, von Brandbomben ausgelösten Feuersbrunst und beschworen ein infernalisches Unterweltszenario herauf. Über allem lag außerdem ein ekelerregender Gestank. Vermutlich waren es Abwässer, die aus der teilweise zerstörten Kanalisation austraten. Manchmal musste ich mir den Ärmel meines Mantels vor die Nase halten. Dann allerdings atmete ich Staub ein, der allgegenwärtig in der Luft hing und sich auf Menschen und Gegenstände legte. Grauer Staub, durchsetzt mit schwarzem Ruß.
An fast jeder Ecke waren Sperren errichtet. Als Vater einen Polizisten ansprach und nach dem Weg fragte, antwortete der müde und resigniert. » Das kann ich Ihnen auch nicht sagen, Sir. Es herrscht überall absolutes Chaos. « Er sah uns aus traurigen Augen an. » An Ihrer Stelle würde ich nicht weitergehen, mit dem jungen Fräulein und so. «
Vater drehte sich zu mir um. » Möchtest du umkehren? «
Ich schüttelte den Kopf. » Nicht nachdem wir schon so weit gekommen sind. Was ist mit dir? «
» Ich hätte dich nie mitgenommen, wenn ich das hier geahnt hätte. Kaum vorstellbar, dass wir heil davongekommen sind « , sagte er.
» Genau das sollten wir herausfinden, oder? « , erwiderte ich und versuchte zuversichtlich zu klingen. » Es kann jetzt nicht mehr weit sein. Lass uns weitergehen. «
An einer Stelle, vermutlich bei der Einbiegung der Threadneedle Street, suchten Dutzende Leute – Kinder und Erwachsene – in den Trümmern eines zerstörten Gebäudes herum und fürchteten offenbar weder einstürzende Mauern noch Blindgänger. Polizei und Luftschutzhelfer bemühten sich vergeblich, dem Treiben Einhalt zu gebieten. Sobald sie eine Gruppe fortgescheucht hatten, kletterte die nächste auf den Trümmerhaufen.
» Wonach suchen die Leute? « , fragte ich einen Helfer.
» Nach Geld « , sagte er und seufzte resigniert. » Das passiert jedes Mal, wenn eine Bank getroffen wird. Wir bekommen das nicht unter Kontrolle. Wenigstens an die Schließfächer können sie nicht ran – die liegen sicher unter all dem Schutt. «
Ein kleiner Junge rannte an uns vorbei und hielt triumphierend eine zerbeulte Münze in der Hand. Er lief zu einem Wagen, der auf einem Schild Frühstück anbot: Tee 5 Pence, Toast mit Butter 10 Pence.
» Lass uns eine Tasse trinken « , sagte Vater. » Ich hole uns was. «
Ich setzte mich auf eine eingestürzte Mauer, und während ich wartete, fiel mein Blick auf einen Luftschutzhelfer, der sich gerade bückte, um etwas aufzuheben. Erst dachte ich, es handele sich um ein Stück von einer Schaufensterpuppe, erkannte jedoch mit wachsendem Entsetzen, dass es in Wirklichkeit eine menschliche Hand war. Eine sehr blasse, schlanke Hand mit Ringen an den Fingern, die am Handgelenk abgetrennt worden war, sauber und ohne Blut. Ich wollte
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