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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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mir nehmen.
    Nach ein paar Tagen fragte Vera, ob ich bereit sei, mich anzusehen, und als ich nickte, zog sie einen kleinen Spiegel hervor und hielt ihn mir hin. Nur mit Mühe erkannte ich das Gesicht, das mir entgegenblickte, so grotesk war es angeschwollen und übersät mit Blutergüssen in allen Farben.
    » Werde ich je wieder aussehen wie ein Mensch? « , flüsterte ich mühsam und den Tränen nahe.
    Sie umarmte mich. » Du wirst heilen, Lily. Innerlich und äußerlich. Das verspreche ich dir. «
    Als Gwen den langen Krankenhausflur herunterkam, konnte ich sehen, wie sie eine betont gelassene Miene aufsetzte, um ihr Erschrecken über mein Aussehen zu verbergen. Doch ihre Umarmung war warm und ihr Geruch vertraut und tröstlich.
    » Danke, dass du gekommen bist « , murmelte ich.
    » Du Ärmste. Tut es beim Reden weh? « Sie setzte sich zu mir aufs Bett, obwohl das, worauf ein Schild ausdrücklich hinwies, Besuchern verboten war.
    Ich nickte und fragte sie stumm nach Mutter.
    » Sie nimmt es sehr schwer, bleibt die meiste Zeit im Bett. Behauptet, sie sei zu erschöpft, um aufzustehen « , erzählte Gwen und nahm meine Hand. Ich merkte mit einem Mal, dass ich sie trotz allerlei Differenzen vermisst hatte. » Deine Mutter hat mir aufgetragen, dich von ihr zu umarmen und dir liebe Grüße auszurichten – sie hofft auf dein Verständnis. «
    Als ich zum ersten Mal ausführlich hörte, wie wenig Mutter mit der veränderten Situation klarkam und nicht einmal in der Lage war, das Bett zu verlassen, begann ich langsam zu begreifen, dass nichts mehr so sein würde wie früher. Ob sie je über Vaters Tod hinwegkommen würde? Ich war so sehr mit meinem eigenen Kummer beschäftigt gewesen, dass ich nicht eine Sekunde darüber nachgedacht hatte, wie es den anderen ergehen mochte, die auch mit diesem Verlust fertigwerden mussten. Insbesondere Mutter. Wenigstens war ich dabei gewesen, hatte das Unglück ebenso mit angesehen wie seinen Rettungsversuch, was ich irgendwie als tröstlich empfand. Ich war an seiner Seite in seinen letzten Minuten, während es allen anderen so vorkommen musste, als sei er einfach so aus ihrem Leben verschwunden.
    » Vielleicht kann ich sie ja dazu bringen, bei der Vorbereitung der Beerdigung zu helfen « , sagte Gwen behutsam. » Damit sie das Gefühl hat, ihm einen letzten Dienst zu erweisen. «
    Beerdigung. Das Wort allein schockierte mich. Und erst recht die Beerdigung meines Vaters. Daran durfte ich gar nicht denken, das war völlig unwirklich.
    » Wir hoffen bloß, dass John rechtzeitig zurückkommt « , fuhr sie fort. » Zuletzt war von einer Woche die Rede. Was dich betrifft, so wirst du nicht so bald entlassen werden. «
    Vera tauchte mit ein paar Bechern Tee auf, die sie der Küche abgeschwatzt hatte. » Gwen ist wie ein Fels in der Brandung « , sagte sie. » Sie sieht nach deiner Mutter, leitet die Fabrik, kümmert sich um die Reorganisation der Abteilungen, die bislang in London waren – sie arbeitet wie ein Pferd. «
    » Das würde jeder tun « , sagte Gwen leise. » Harold und Grace haben mir damals eine Chance gegeben, als meine Mutter und ich völlig am Ende waren. Jetzt ist die Zeit gekommen, das wiedergutzumachen. «
    Sie griff in ihre Handtasche. » Fast hätte ich’s vergessen « , sagte sie und zog vier blaue Luftpostbriefe heraus. Mein Herz machte einen Satz. » Geschenke aus Australien « , sagte sie lächelnd.
    Seit Vaters Tod war der Gedanke an Stefan mein einziger Trost gewesen. Während ich die Briefe in der Hand hielt und auf seine Handschrift schaute, traten mir vor Erleichterung Tränen in die Augen und rollten meine Wangen hinunter. Behutsam wischte ich sie mit dem Handrücken weg, überprüfte die Poststempel und riss den neuesten auf und überflog ihn, dann die anderen. Alle endeten mit der gleichen Zeile: Ich liebe Dich, meine Lilymaus, S. Dahinter eine Reihe von Sternen, die für Küsse standen.
    » Wie geht’s den Jungs? Ist alles okay? « , fragte Vera.
    » Sieht so aus « , sagte ich schniefend und versuchte zu lächeln. » Immer noch hinter Stacheldraht in der Wüste. «
    » Die armen Kerle « , sagte sie leise. Ich steckte die Briefe unter mein Kopfkissen, um sie später ganz alleine zu lesen und in Erinnerungen zu schwelgen.
    Während Gwen und Vera an meinem Bett saßen und sich über Alltägliches unterhielten, über die Fabrik und die Arbeiter, über die kürzlich erfolgte Verlängerung des Vertrags und den Druck, den Robbie auf sie ausübte, über die

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