Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
Vom Netzwerk:
letzten Kriegsnachrichten – in diesem Moment erkannte ich, dass Vera recht hatte: Das Leben ging weiter.
    Fünf Wochen vergingen, bis ich endlich aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Gwen holte mich nach Hause, denn ich war noch zu schwach, um es alleine zu schaffen. Als wir mit dem Taxi zum Bahnhof fuhren – ein Luxus, auf dessen Bezahlung sie bestand –, ertrug ich es kaum, aus dem Fenster auf die zerstörte Stadt zu blicken. Es war, als durchlebte ich denselben Albtraum noch einmal. Jeder Trümmerhaufen erinnerte mich an jenen, auf dem Vater gestorben war. Wie antike Grabhügel sahen sie aus, doch darunter begraben waren Menschen, die vorzeitig aus dem Leben gerissen worden waren. Die Erinnerungen überwältigten mich, und weinend brach ich in Gwens Armen zusammen. Der Taxifahrer seufzte mitleidig. Er hatte das alles schon erlebt, Hunderte Male.
    Als wir zu Hause ankamen, war das Wetter trüb und kalt und die Atmosphäre im Kastanienhaus äußerst trist. Im Zug hatte Gwen mir erzählt, dass Mutter für die Beerdigung zwar das Bett verlassen habe, seither aber ständig mit dem Gesicht zur Wand lag. Bald sollte ich es selbst sehen.
    » Mutter? Ich bin’s, Lily. Ich bin wieder da. « Die Schlafzimmervorhänge waren zugezogen. In dem dunklen Raum konnte ich gerade so ihre Gestalt ausmachen, die in Embryonalhaltung im Bett lag und mir den Rücken zukehrte.
    » Sieh mich an, Mutter. « Ich setzte mich auf die Bettkante und rieb ihre knochigen Schultern, streichelte ihr ergrauendes, ungepflegtes Haar. Ihre Augen waren offen, sie weinte still, und ihre Tränen durchnässten das Kissen. Ich beugte mich über sie und küsste sie.
    » Mutter? « , sagte ich wieder, ohne eine Antwort zu erhalten. Ich wischte ihr die Tränen ab, und während der nächsten halben Stunde redete ich einfach drauflos: über das Unglück und wie mutig Vater gewesen war, als er Beryl zu retten versuchte, über meinen Kiefer und meine Narbe und den glücklichen Zufall, ausgerechnet in Veras Krankenhaus zu landen. Ich erkundigte mich nach der Beerdigung, nach den Trauergästen, die zu Hunderten erschienen waren, sodass es am Ende nur noch Stehplätze gab, doch nichts schien zu ihr durchzudringen. Letztendlich ging ich in die Küche, um Tee aufzusetzen.
    » Ist sie immer so? « , fragte ich John, der inzwischen aus der Fabrik gekommen war. » Was sagt der Doktor? «
    » Dr. Fairweather hat ihr ein Mittel gegen ihre Depressionen verschrieben, das sie aber nicht nehmen will « , sagte er. » Wir sind mit unserem Latein am Ende. «
    » Der Arzt meint, es könne eine Weile dauern « , fügte Gwen hinzu und schenkte Tee ein. » Er riet uns, so viel wie möglich mit ihr zu reden und dafür zu sorgen, dass sie gut isst. Nur hat sie kaum Appetit, und die miserablen Zuteilungen machen es nicht gerade leicht, ihr etwas anzubieten, das sie zum Essen verlocken könnte. «
    » Gwen hat sich die ganze Zeit hingebungsvoll um Mutter gekümmert « , wechselte John das Thema. » Doch das ist natürlich keine Dauerlösung, und ich denke, wir sollten eine Krankenschwester engagieren. Macht es Ihnen etwas aus, bis dahin im Kastanienhaus nach dem Rechten zu sehen? «
    » Das ist das Mindeste, was ich für Grace tun kann « , sagte Gwen und lächelte ihr besonnenes, beruhigendes Lächeln, bei dem sich die Sommersprossen um ihre Augen zusammenzogen.
    » Lass uns noch ein, zwei Tage damit warten, John. Ich kann im Moment nicht klar denken « , sagte ich. In Wahrheit hoffte ich einfach darauf, dass sich Mutters Zustand jetzt, da ich mich um sie kümmern konnte, besserte. Ich irrte mich gewaltig. Eine Woche verging, ohne dass sich viel veränderte. Mutter weigerte sich weiterhin, das Bett zu verlassen. Der Arzt sprach von einer » nervösen Erschöpfung infolge eines extremen Schocks « und gab sich nicht sonderlich optimistisch. » Wir müssen ihr Zeit lassen, vielleicht sogar sehr lange. Sie wird Ihre ganze Liebe und Unterstützung brauchen … «
    Zweimal pro Woche schrieb ich an Stefan und erzählte ihm von meinem Leben. Versicherte ihm, dass ich den Mut nicht verlor, und bat ihn, ebenfalls auf die Zukunft zu vertrauen. Trotz der problembeladenen Gegenwart. Er schrieb zurück, sooft er konnte. Allerdings brauchte die Post sehr lange, bis sie die Meere und Kontinente überquert hatte.
    Inzwischen waren es zwölf Briefe, die neben Stefans schwarzem Federmäppchen in meiner Nachttischschublade lagen. Des Öfteren war ich schon versucht gewesen, das kleine Lederetui, das er

Weitere Kostenlose Bücher