Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
ihre Beine.
Achtlos sah sie die Briefe durch. Rechnungen und Werbesendungen, eine Ansichtskarte von ihrer Freundin Tina, die auf den Malediven Urlaub machte. Der letzte Umschlag war größer und schwerer, das braune Papier mit einer schwungvollen Handschrift bedeckt. In ihrem Magen kribbelte es schon wieder, als sie den Brief näher an die Lampe hielt, um zu sehen, woher er kam. Eine spanische Briefmarke.
Spanien? Schon wieder! Das Gefühl in ihrem Magen wurde zu einem Schlingern, als sie die Adresse des Absenders entzifferte. Eine Kanzlei in Segovia, Junta de Castillia y León. Sollte ihr das etwas sagen? Sie hatte nur eine vage Vorstellung von Kastilien, dem alten Königreich im Zentrum Spaniens. Ein Hochland stand ihr vor Augen. Eine weite Ebene mit kargen Weiden, so weit das Auge reichte, und Tausende von Schafen, die im Frühling nach Norden und im Herbst in Richtung Süden vorüberzogen.
Sie war nie dort gewesen. Vermutlich hatte sie im Fernsehen irgendwann eine Reportage gesehen, deren Bilder ihr Gedächtnis nun preisgab. Das beantwortete aber noch nicht ihre Frage, warum eine Kanzlei in Kastilien ihr einen Brief schickte. Bedächtig öffnete Isaura den Umschlag und entfaltete ein halbes Dutzend Papiere, von denen die meisten in Spanisch oder, richtiger gesagt, in Kastilisch gehalten waren – so viel zumindest konnte sie erkennen, selbst wenn dies nicht zu den Sprachen gehörte, die sie beherrschte. Sie musste das eine oder andere Wort aufgeschnappt haben. Vielleicht in ihren Urlauben, die sie früher mit den Eltern auf den Kanaren verbracht hatte. Egal. Jedenfalls sprach sie nicht so viel Spanisch, als dass sie die Briefe oder vermutlich eher Dokumente verstanden hätte. Isaura blätterte weiter, bis sie auf ein Anschreiben des Anwalts stieß, das glücklicherweise in Englisch abgefasst war.
Sie las ihren Namen und dann die etwas umständlich formulierten Sätze, die mehr zu dem blumigen Sprachstil eines Spaniers passten als zu dem eines nüchternen Engländers. Dennoch war die Botschaft klar. Es ging um eine Erbschaft. Wer war gestorben? Der Name sagte ihr nichts. Eine Ver wandte? Isaura klappte ihr Netbook auf und gab das Wort sicherheitshalber in das elektronische Wörterbuch ein. Wenn sie das Schreiben des Anwalts also richtig verstand, dann war die vor einer Woche verstorbene Carmen Rodriguez de Sola ihre Großtante gewesen, die ältere Schwester ihrer Großmutter mütterlicherseits. Diese Frau, von deren Existenz sie nicht einmal gewusst hatte, hinterließ ihr irgendetwas, und der Anwalt forderte sie mit diesem Schreiben auf, nach Segovia in seine Kanzlei zu kommen, um die nötigen Papiere zu unterzeichnen, die ihr erlaubten, die Erbschaft anzutreten. Um was es sich dabei handelte, davon schrieb er in dem Brief nichts. Vermutlich konnte man es aus den anderen Dokumenten entnehmen, wenn man genügend Spanisch verstand.
Isaura blätterte die Unterlagen noch einmal durch, bis sie auf ein Foto stieß. Auf der Rückseite stand in feinen steilen Lettern ›Carmen Rodriguez de Sola‹. Es war ein altes Schwarz-Weiß-Foto, das mit den Jahren vergilbt war. Der Tracht nach zu schließen konnte es ein Hochzeitsbild sein. Wann war es gemacht worden? Isaura hob das Foto näher an die Augen, um die Jahreszahl zu entziffern. 1937? Vor fünfundsiebzig Jahren? Himmel, wie alt war diese Großtante denn geworden? Isaura suchte die Unterlagen durch, bis sie ein Geburtsdatum fand. 1919. Carmen Rodriguez de Sola war dreiundneunzig Jahre alt geworden. Ein stolzes Alter. Wieder fragte sie sich, warum ihr niemand in der Familie von dieser Großtante erzählt hatte? Isaura rechnete nach. Sie war fast zwanzig Jahre älter gewesen als ihre Großmutter. Waren die Schwestern gar nicht zusammen aufgewachsen und hatten keinen Kontakt miteinander gehabt? Umso erstaunlicher, dass Carmen nun ihre unbekannte Großnichte als Erbin eingesetzt hatte.
Als eine der Erben, korrigierte sich Isaura. Sie wusste ja nicht, wer noch alles in diesem Testament bedacht worden war. Und auch nicht, was sie geerbt hatte. Jedenfalls schien der Anwalt zu erwarten, dass sie deswegen nach Spanien reiste.
Isaura zog ihr Netbook heran und rief eine Karte von Spanien auf. Kastilien. Sie ließ den Finger über den Bildschirm wandern, bis sie fand, was sie suchte. Hier, nördlich der zentralen Bergkette, die das Hochland ungefähr in Ost-West-Richtung zerschnitt, lag Segovia.
Sie konnte nach Madrid fliegen und sich einen Mietwagen nehmen. Und dann
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