Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
Grimasse wandte er sich wieder seinem Artikel zu, an dem er seit drei Tagen feilte.
Auf dem Heimweg beschloss Isaura einen Abstecher nach Sendling zu machen, um das Antiquariat aufzusuchen, das die junge Buchhändlerin ihr empfohlen hatte. Wie waren ihre Worte gewesen?
»… wenn es Sie in seinen Bann gezogen hat …«
Ja, das traf die Sache recht gut. Isaura wollte mehr erfahren, und der Tipp machte sie neugierig. Sie suchte sich einen Parkplatz und machte sich auf den Weg zu der auf der Visitenkarte genannten Adresse. Bald schon stand sie in einer unscheinbaren Nebengasse vor dem Schaufenster, dessen Auslage allen Klischees über Antiquariate genau entsprach. In keiner erkennbaren Ordnung waren unzählige Bücher neben- und übereinandergelegt, die weder ihre Themen noch ihr Alter oder ihr Wert miteinander verbanden. Zwischen den beiden Schaufenstern des Ladens führte eine verwitterte Holztür mit trüben Glaseinsätzen ins Innere. Eine altmodische Glocke ertönte, als sie die Tür aufstieß. Isaura fühlte sich in ihre Kindheit zurückversetzt. Genauso hatte sie sich Michael Endes Buchladen vorgestellt, in dem Bastian die »unendliche Geschichte« mitgehen ließ. Und auch der Besitzer, Herr Collmann, der an einem Schreibtisch saß und kurz mit einer gebrummten Begrüßung von seiner Lektüre aufblickte, hätte sich durchaus in der »unendlichen Geschichte« sehen lassen können.
»Kann ich Ihnen helfen, oder wollen Sie sich nur mal umschauen?«
Er war klein, rundlich, mit fast kahlem Schädel und einer runden Brille auf der Nase. Vielleicht hatte auch er das Buch in seiner Jugend unzählige Male gelesen und war nun ein Teil der Geschichte geworden? Isaura unterdrückte das aufsteigende Lachen und erkundigte sich stattdessen nach dem Buch, das die Verkäuferin ihr genannt hatte.
»Ich interessiere mich für Königin Isabella von Spanien«, sagte sie.
Herr Collmann nickte, und Isaura hatte den Eindruck, er schenke ihr nun seine ganze Aufmerksamkeit. Er schlug das Buch zu und erhob sich.
»Ich habe mir schon eine Biografie und ein Werk über die Zeit der katholischen Könige gekauft, aber man gab mir den Rat, mich bei Ihnen nach einer …«, sie dachte nach und legte die Stirn in Falten, »nach einer ›Caminata‹ oder so zu erkundigen.«
Der Antiquar nickte mit einem Lächeln.
»›La Caminata de la edad‹ – ein Pseudonym, verstehen Sie? Ja, es ist ein interessantes Werk, das muss ich sagen. Ich habe mich sehr viel damit beschäftigt, und dennoch sind noch so viele Fragen offen.«
Er ging davon und kam nach einigen Minuten mit einem ledergebundenen Buch zurück, das recht alt sein musste. Isaura kannte sich da nicht aus, doch zu ihren Lebzeiten war es sicherlich nicht gedruckt worden.
»Darf ich fragen, wie Sie von diesem Buch erfahren haben? Nicht zufällig von einem Fräulein Collmann in einer gewissen Buchhandlung am Marienplatz?«
Isaura verstand. »Ihren Namen weiß ich nicht, doch es war eine junge Buchhändlerin, die mir Ihre Karte gab.«
»Meine Enkelin«, sagte er mit einem gewissen Stolz. »Sie ist von dem Thema genauso besessen wie ich – sehr zum Leidwesen ihrer Mutter. Sie verbringt mehr Zeit bei mir im Laden, als es ihren Eltern recht ist.« Er hielt inne. »Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht mit Familiengeschichten langweilen. Hier ist das Buch, nach dem Sie fragten.« Behutsam, als sei es sein größter Schatz, reichte er ihr den Wälzer. Isaura schlug die erste vergilbte Seite auf.
»Wer ist diese Caminata?«, fragte sie und blätterte vorsichtig weiter.
»Das ist eines der großen Geheimnisse. Ich konnte nie herausfinden, wer sich hinter diesem Pseudonym verbirgt. Ja, ich weiß nicht einmal, ob es eine Frau oder ein Mann ist, allerdings würde ich auf eine Frau tippen, einfach nach der Art, wie detailliert sie ihre Beobachtungen beschreibt. Und da kommen wir gleich zu dem nächsten großen Geheimnis, das ich bisher nicht lüften konnte. Wann wurde dieses Buch geschrieben? Es klingt in seiner Sprache recht modern und ist daher auch gut zu lesen. Dennoch wird man immer wieder dazu verführt zu glauben, man habe es mit einer Augenzeugin zu tun, die als Chronistin die Ereignisse direkt vor Ort festhält.«
»Zeichnet nicht gerade das einen guten Romanschriftsteller aus?«, warf Isaura ein.
Herr Collmann nickte. »Ganz sicher, nur stellt sich mir die Frage: Ist es denn ein Roman? Darüber wurde in meinen Kreisen viel und sehr kontrovers diskutiert, das kann ich Ihnen
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