Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
vielleicht ein paar Tage durch das Land reisen. Kastilien, das Land der Burgen und Festungen. Vielleicht würde sich Justus ebenfalls für diese Reise erwärmen. Hatte sie nicht entschieden, dass ihnen ein gemeinsamer Urlaub guttun würde? Warum nicht das eine mit dem anderen verbinden? Spanien im Frühling? Das hörte sich nicht schlecht an. Sie tippte »Segovia« in die Suchmaschine ein und betrachtete die Bilder, die ihr auf dem Monitor angezeigt wurden. Das riesige römische Aquädukt, die Kathedrale mit ihrer Kuppel und den unzähligen Strebebogen und Türmchen und dann, auf der Spitze der aufragenden Steilklippe, der Alcázar, der alte Königspalast, der im rötlichen Abendlicht wie ein Märchenschloss aus Cinderella anmutete.
Isaura spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Eine seltsame Erregung erfasste sie. Ja, sie würde nach Kastilien reisen, mit oder ohne Justus. Und sie ahnte nicht nur, sie wusste es mit klarer Bestimmtheit, dass dies keine gewöhnliche Reise werden würde, die man als ganz nett eine Weile in Erinnerung behielt und dann ohne Bedauern vergaß. Nein, dies würde eine Reise in ihre eigene Geschichte werden, zu einem ihr unbekannten Teil ihrer Familie und eine Reise zu sich selbst.
Isaura war in München geboren und aufgewachsen. Sie war ein Einzelkind, das ihre Eltern vielleicht fast ein wenig zu sehr umsorgt und beschützt hatten. Sie hatte eine schöne, sorglose Kindheit erlebt, zumindest bis zu dem Tag, als ihr Vater bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Drei zehn Jahre alt war sie gewesen, doch sie erinnerte sich noch heute an jede Einzelheit dieses Tages, als ein Polizist ihnen die Nachricht überbracht hatte. Ihre Mutter hatte ihm völlig ahnungslos die Tür geöffnet, doch Isaura wusste bereits, ehe er den Klingelknopf berührte, dass etwas Entsetzliches geschehen war. Sie hatte in der Nacht zuvor geträumt, wie ihr Vater in den Pyrenäen in eine tiefe Schlucht stürzte. Sie hatte seinen zerschlagenen Körper vor sich gesehen und war von ihren eigenen Schreien erwacht. Die Mutter hatte vergeblich versucht, sie zu beruhigen, und alles als einen Albtraum abgetan, doch Isaura hatte es besser gewusst. Die Ankunft des Polizisten war lediglich die Bestätigung dessen gewesen, was sie in ihrem Traum gesehen hatte. Seither waren sie nie wieder in den Ferien nach Spanien gereist.
Nach dem Tod ihres Vaters war die Großmutter zu ihnen gezogen, und ihre Mutter hatte sich eine Arbeit gesucht. Isaura hatte ihre Großmutter geliebt. Sie war es gewesen, die ihre Tränen getrocknet hatte, wenn Isaura wieder einmal weinend aus einem Albtraum aufgeschreckt war. Sie hatte Isaura viel gelehrt, doch über ihre ältere Schwester hatte sie nie gesprochen. Nun war auch ihre Großmutter schon seit vielen Jahren tot, und ihre Mutter lebte zurückgezogen in ihrer eigenen Welt in einem Seniorenstift außerhalb von München, obwohl sie noch nicht einmal siebzig Jahre alt war!
Isaura dachte über die bevorstehende Reise nach. Eine Reise, die vieles aufwühlen konnte. Der Gedanke beunruhigte sie. War es klug, so viel mehr über sich selbst zu erfahren? Die Schlüssel zu den versperrten Toren zu suchen, die sie so sorgfältig vergraben und vergessen hatte? Sie hatte einen langen Weg zurückgelegt, um ihr eigenes Gleichgewicht zu finden. War sie im Begriff, dies leichtfertig aufs Spiel zu setzen?
Isaura betrachtete ihr Spiegelbild in dem nun verdunkelten Monitor. Sie hatte ihr Gleichgewicht doch längst verloren, und es gelang ihr nicht einmal mehr, eine akzeptable Fassade aufrechtzuerhalten. Vielleicht war die Zeit gekommen, die Schlüssel zu suchen und die Türen ihrer Seele wieder zu öffnen.
Es war noch nicht einmal neun, doch wie nicht anders zu erwarten saß Alex bereits an ihrem Schreibtisch. Für eine Journalistin unerhört früh!
Isaura klopfte und trat ein. Alex hob kurz den Blick und arbeitete dann in ihrer üblichen Geschwindigkeit einen Stapel Papiere durch. Wie gelang es ihr nur, in diesen wenigen Augenblicken auch nur einen Eindruck davon zu bekommen, um was es sich bei diesen Schreiben handelte? Isaura sah ihr fasziniert zu, bis sie innehielt.
»Was gibt es?«
»Ich habe noch mal darüber nachgedacht. Ich glaube, ich brauche wirklich eine Auszeit, um ein wenig Abstand zu bekommen und mich nachher wieder richtig reinknien zu können.« Sie holte tief Luft. »Also am besten sofort, und wenn es möglich ist, drei oder vier Wochen. Ich habe noch zehn Tage Urlaub aus dem letzten Jahr, den wir
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