Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
kaum sattsehen. Ähnlich wie Arévalo war die Stadt in dem spitzen Dreieck des Zusammenflusses zweier Gewässer entstanden: Der Río Clamores floss hier in den Río Eresma, der ein tiefes Tal in den felsigen Hügel gefressen hatte, auf dessen nördlicher Schulter das Kloster der Barfüßerinnen und einige weitere Konvente und Einsiedeleien erbaut worden waren, während sich auf der südlichen Seite die Stadt erhob.
Ramón blieb an Jimenas Seite und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf einige Türme und Gebäude, die über die Dächer der Häuser und über die Stadtmauer ragten, die den ganzen Hügel in einem ovalen Ring umschloss, um dann zu der wie eine Klippe aufragenden Westspitze der Stadt anzusteigen, aus deren felsigem Grund der Palast emporwuchs. Direkt dahinter, auf dem schmalen Grat, der den Alcázar mit der Stadt verband, erhob sich die Kathedrale mit ihren spitzen Türmen. Doch gegen den königlichen Palast verblasste der kirchliche beinahe.
»Wie herrlich, wie majestätisch, wie erhaben«, hauchte Jimena.
Ramón nickte ernst. »Ja, das perfekte Symbol der königlichen Macht, aber leider nur ein trügerischer Schein.«
Seine Cousine sah ihn fragend an, doch er winkte ab und war nicht bereit, seine für sie rätselhaften Worte zu erklären.
»Zerbrich dir nicht deinen hübschen Kopf«, sagte er läs sig. »Vielleicht wirst du irgendwann wissen, was ich gemeint habe, wenn du lange genug im Umfeld des Hofs lebst und Augen und Ohren offen hältst. Doch es ist ganz sicher nicht an mir, solche Gedanken laut auszusprechen. Das könnte mir nicht gut bekommen, wenn falsche Ohren es vernehmen«, fügte er leiser hinzu. Damit hatte er zwar erst recht Jimenas Neugier geweckt, doch er wechselte mit Nachdruck das Thema und begann von dem anderen Wunderwerk der Stadt zu sprechen, das, ihren Blicken noch verborgen, auf der anderen Seite zu finden war.
»Warte nur ab, bis du es zu Gesicht bekommst«, sagte er. »Du meinst deinen Augen nicht trauen zu können! Das Aquädukt ist ein wahres Wunderwerk der Baukunst, das die Römer vor vielen Hundert Jahren geschaffen haben, als sie Hispanien beherrschten. Leider sind nicht mehr alle Bogen erhalten, doch noch immer bringt es genug Wasser über das Tal hinweg auf den Hügel hinauf, um all die Menschen im Palast und in der Stadt zu versorgen.«
Erzbischof Carrillo rief zum Aufbruch, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Langsam ritten sie den gewundenen Weg in das tief eingeschnittene Flusstal hinab. Die Karren rumpelten in einigem Abstand hinter ihnen her. Sie passierten den Río Eresma und folgten dann dem ansteigenden Pfad den Hügel entlang, bis sie auf der Ostseite der Stadt das große Tor erreichten. Jimena argwöhnte, man hätte durchaus auch ein näher am Palast gelegenes Tor benutzen können, doch der Erzbischof und der Marquis wollten vermutlich nicht auf den Zug durch die Stadt verzichten, wo jeder der Bewohner sie sehen und ihre prachtvollen Pferde und Gewänder bewundern konnte. Und vielleicht war es auch eine Art Triumphzug – um die Beute des Siegers zu präsentieren?
Ein kalter Schauder rann ihr über den Rücken. Waren Isabel und ihr Bruder so etwas Ähnliches? Die Beute der Mächtigen, die was beabsichtigten? Sie unter ihrer Aufsicht zu haben? Ein Druckmittel zu besitzen?
Das war Unsinn. Der König war noch nicht sehr alt, und er war Vater einer gesunden Tochter, die sein Erbe antreten konnte.
Und dennoch würde einst Isabel auf dem Thron sitzen, davon war Jimena nach wie vor überzeugt. Nur leider lag der Weg, den sie bis dahin würde beschreiten müssen, noch in völligem Dunkel. Sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte nichts sehen. Nur eine Ahnung stieg in ihr auf, dass es ein steiniger Weg sein würde voller Dornen, Ängste und Leid.
Hatte dies mit den beiden Männern zu tun, die ihnen stolz voranritten und die Huldigung der Menschen entgegennahmen, die ihnen in den Gassen eilig Platz machten?
Ramón unterbrach ihre Überlegung. »Und? Ich hoffe, du bist von dem erstaunlichen Bauwerk des Aquädukts beeindruckt!«
Jimena warf einen Blick zurück auf die riesigen Bogen, die anscheinend ohne Mörtel aus großen Blöcken zusam mengefügt worden waren – mit einer unschönen Lücke allerdings, die notdürftig durch eine Holzkonstruktion überbrückt wurde.
»Ein Überbleibsel der Rückeroberung der Stadt von den Mauren«, erklärte Ramón die Zerstörung.
»Das ist aber schon einige Jahre her«, meinte Jimena und hob erstaunt die Brauen. »Hat
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