Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
erregen, der keine Heiratsabsichten hegen konnte.
Zaghaft sah sie wieder auf, nur um sich vom Blick des Königs gefangen zu finden, der sie noch immer mit sichtlicher Freude betrachtete. Ja, mit reiner Freude, musste sie zu ihrer Überraschung feststellen. Da war keine Lüsternheit, kein verschlagenes Sehnen nach dem Verbotenen. Es war, als lege er seine Seele offen vor ihr bloß, und Jimena musste ihren ersten Eindruck, den sein wenig einnehmendes Äußeres verschuldet hatte, von Grund auf revidieren.
Diesem Herrscher war Dünkel fremd. Er war herzlich und freundlich und versuchte, den anderen zu gefallen, was von diesen weidlich ausgenutzt wurde! Jimena ließ den Blick über die anwesenden Höflinge schweifen, und sie hatte plötzlich die Vision, in einen Schwarm Geier geraten zu sein, die sich rücksichtslos um einen Kadaver balgten. Nein, diese Männer und Frauen dankten dem König seine freundliche Art nicht. Sie umschmeichelten ihn nur, um den größtmöglichen Vorteil für sich selbst daraus zu ziehen. Jimena schenkte dem König einen traurigen Blick. Nein, in dieser Welt bekam es einem als Herrscher nicht gut, wenn man zu weich und zu freundlich war und wenn man sich nach Harmonie sehnte, statt Konflikten entschlossen entgegenzutreten.
Kapitel 4
München, März 2012
Es war einer dieser nassen, kalten Frühlingsabende. Isaura saß in eine Decke gewickelt auf dem Sofa, einen Becher heißen Tee in den Händen, und fröstelte dennoch. Es war bereits dunkel geworden, aber sie hatte kein Licht eingeschaltet. Die Straßenlaternen verliehen den Vorhängen einen warmen Schimmer, und ab und zu strich das Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Wagens über den orangeroten Stoff. Sobald das Motorengeräusch verebbte, war nur noch das Ticken einer Uhr zu hören.
Sie war allein. Justus würde erst morgen zurückkommen können. Wieder einer dieser einsamen Abende, die unendlich langsam und zäh wie Honig verstrichen. Und dennoch fühlte sich Isaura seltsam erleichtert. Niemand sah sie an. Keiner hob fragend die Brauen und erhoffte eine Antwort, die sie nicht geben konnte oder nicht geben wollte. Sie musste mit niemandem reden. Sie konnte sich ganz ihren stetig kreisenden Gedanken ergeben. Ob das gut für sie war, darüber wollte sie allerdings nicht nachdenken.
Isaura hatte das Buch, das sie aus dem Redaktionsarchiv entwendet hatte, aufgeschlagen auf den Knien liegen, doch obgleich es so dunkel im Zimmer war, dass sie das Gemälde nicht mehr erkennen konnte, stand ihr jede Einzelheit vor Augen, und sie spürte den Blick der unbekannten Frau auf sich ruhen. Sven hatte gesagt, sie sehe ihr ähnlich.
So ein Blödsinn!
Isaura knipste das Licht an, legte das Buch zur Seite und trat in den Flur hinaus, wo sie sich in dem großen Spiegel betrachtete. Ein schmales, weißes Gesicht starrte ihr entgegen. Das sonst so volle kastanienbraune Haar hing ihr schlaff über die Schultern herab. Ihre Augen waren ebenfalls von einem rötlichen Braun und von dichten Wimpern umrandet. Die sorgfältig gezupften Brauen erhoben sich in einem kühnen Schwung unter ihrer Stirn. Eigentlich ein schönes Gesicht, das Justus viele Jahre zum Schwärmen gebracht hatte, und dennoch in diesem Moment nur ein trauriger Anblick. Ihre Haut schien geradezu durchscheinend geworden zu sein, obwohl sie der Typ war, der bereits im Frühling einen von ihren Freundinnen stets beneideten sonnengebräunten Ton an nahm. Nun ahnte sie sogar die pochenden Adern an ihren Schläfen.
War sie etwa krank? War das vergangenen Monat doch nicht nur eine einfache Erkältung gewesen? Trug sie einen dieser heimtückischen neuen Viren oder Bakterien in sich, von denen die Nachrichten so genüsslich berichteten?
Nein. Sie litt weder an der Vogel- noch an der Schweinegrippe oder an EHEC oder wie die Kandidaten der vergangenen Jahre alle geheißen hatten. Es war etwas anderes, das an ihr zehrte. Aber was?
Isaura kehrte ins Wohnzimmer zurück, ehe sie sich eingestehen musste, dass Sven mit seiner Aussage recht hatte. Ja, sie sah der ernst blickenden Frau auf dem Gemälde mehr als nur ähnlich. Es schien, als habe man Isaura in ein historisches Gewand gesteckt und auf Leinwand gebannt. Wie seltsam.
Um sich von dem Gedanken abzulenken, griff sie nach dem Stapel Post, den sie vorhin nur auf die Garderobenkommode gelegt hatte, und nahm ihn mit ins Wohnzimmer. Sie klappte das Buch mit einer energischen Bewegung zu, kuschelte sich wieder auf dem Sofa zurecht und zog die Decke über
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