Das katholische Abenteuer - eine Provokation
anderen seien zu ihm übergelaufen. Seit
den Ghettobränden von Los Angeles 1992 sei er nicht mehr »der Verrückte am Rande, sondern der, der Recht behielt«. Im Unterschied zu anderen Schwarzenführern habe er sich nie an das Establishment verkauft, sondern stets den Kontakt zur Straße behalten.
Für einen wie Sharpton ist überall Straße, sechzehn Stunden am Tag. Er jagt in seinem schwarzen Mercury von einem Wahlkampfauftritt zum nächsten, ein mörderisches Programm aus Reden und Beratungen, Demonstrationen und Strategiediskussionen. Was ihn treibt? Er schweigt eine Sekunde und schließt die Augen. Dann sagt er, und er lächelt dabei überrascht: »Ich predige, seit ich vier Jahre alt bin – eigentlich habe ich nie etwas anderes gelernt.«
Das Idol von Raheem, der vor der St. Paul-Kirche eine Zigarettenpause einlegt, ist Reverend Youngblood, dessen Stimme bis auf die Straße zu hören ist. Die paar Meter bis zur Straßenecke sind Sicherheitszone – selbst die Pusher hier, in East New York, dem Stadtteil mit der höchsten Mordrate, respektieren den Reverend.
Es war Youngblood, der die prächtige afrikanische Beerdigung für Raheems kleinen Bruder organisierte. Und ihn, Raheem, wird Youngblood womöglich davor bewahren, »zur Statistik« zu werden. Er war auf dem besten Wege dazu. Vor einem halben Jahr wurde er eingebuchtet wegen bewaffneten Raubüberfalls. Er hat fünf Jahre Bewährung. Nun geht er auf eine Schule, bleibt weg von den Drogenleuten, hört auf den Reverend. Irgendwann wird er studieren.
Die Statistik allerdings spricht gegen ihn. Die Statistik sieht vor, dass der junge Raheem sein 30. Lebensjahr nicht erleben wird. Er wird von einem Schwarzen umgebracht werden, kaum älter als er selber. Vorher wird er noch ein paar Kinder in die Welt setzen, die ihren Vater nicht kennen. Auch Raheem kannte seinen Vater nicht. »Die Statistik.« Raheem spricht das Wort mit
einem gewissen Schauder aus. Bei ihm klingt es wie: Schicksal, Mythos, kein Entrinnen.
Drinnen streckt Reverend Youngblood seine Hände über der Gemeinde aus. Er trägt eine rote Robe, und hinter ihm, im farbigen Kirchenfenster, strahlt das Symbol der Auferstehung: das Kreuz, über das das Grabtuch geschlungen ist. In Reverend Youngbloods Kirche ist jeden Sonntag Auferstehung. Schwarz sein in East New York, das ist ein trotziges Dennoch, das ohne die Kirche nicht möglich wäre. Jeden Sonntag ein Stück Hoffnung, ein Triumph über den Satan, der »Statistik« heißt.
Wenn Amerika eine Erkältung bekommt, sagt man, bekommen die schwarzen Gemeinden Lungenentzündung. Dann sind Kirchen wie St. Pauls die Notaufnahmen. Rund drei Viertel aller Schwarzen stimmen der Aussage zu, dass »Religion die Antwort auf die meisten Fragen unseres Daseins bereithält«.
Allerdings wird sie von Frauen weit öfter befragt als von Männern. Männer haben keinen guten Ruf in schwarzen Baptistengemeinden. Die gehen trinken und türmen mit dem Wohlfahrtsscheck. Gottesdienste also – eine Weiber- und Kinder-Veranstaltung? Nicht in Youngbloods Gebetshaus, das sich die »ungewöhnliche Kirche« nennt. Hier sitzen, links und rechts vom Altar auf Emporen, die Männer der Gemeinde. Jahre an Überzeugungsarbeit hat er gebraucht, bis sie gefüllt waren. Youngblood ist kein politischer Maulheld und kein feinsinniger Akademiker. Mehr als alles andere ist er Sozialtherapeut.
Youngblood bittet die Männer, sich von den Stühlen zu erheben. »Kinder«, ruft er, »schaut euch die Männer an, eure Väter, eure Onkel, eure Nachbarn. Sie sind nicht die Statistik. Sie sind eure Helden.« Und die Gemeinde applaudiert der Wiedergeburt des schwarzen Mannes als Rollenmodell, als Vorbild.
An diesem Sonntag ist Kindergottesdienst. Die Kleinen haben ein Bibelspiel vorbereitet. Dann treten die Teenager vor die Gemeinde. Die Jungen marschieren mit militärischem Drill und rufen ihre Schwüre auf ein tugendhafteres Leben, und die Mädchen tragen Schärpen mit ihren Namen, wie Schönheitsköniginnen.
Dann treten sie nacheinander einen Schritt vor und verkünden, was sie einmal werden wollen. Zahnarzt, Lehrer, Friseurin. Doch der Beruf, der am meisten genannt wird, ist – Strafverteidiger.
Youngbloods Gemeinde feiert einen solidarischen, einen schwarzen Jesus, einen Bruder, dem sie applaudieren kann, denn Jesus sagt:«Y’all give me a hand.« Diesem Jesus hat Raheem kürzlich einen Rap-Song geschrieben, der alle elektrisiert hat. Wer Jesu Stellvertreter auf Erden ist, ist allen
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