Das katholische Abenteuer - eine Provokation
gekommen, und jede Menge Powerbroker stehen herum, denn es ist Präsidentschaftswahlkampf.
João Carlos Martins beugt sich vor und raunt: »Der hat früher Banken ausgeraubt, für die gute Sache natürlich.« Er meint den Minister. Er grinst. Er durchschaut diesen Society-Spuk, diesen Jahrmarkt an Eitelkeit und Lüge. Kurz darauf steht Martins beim ihm und lächelt und plaudert. In der Musik nennt man so etwas wohl Tonartwechsel, und Bach, der Meister, hat die Tonart sogar innerhalb eines Taktes gewechselt.
Allerdings muss Martins seine Rechte noch trainieren für das soziale Parkett. Er hat eine merkwürdige Begrüßungstechnik entwickelt. Er weicht dem meist rechten Händedruck mit einer Art Vorwärtshaken seiner Linken aus. Dabei greift er nach dem Ellbogen des Gegenübers, was regelmäßig ein heilloses Gehedder und Gefummel ergibt.
»Die Linke ist für Bach«, sagt Martins achselzuckend, »meine Rechte taugt nur noch dazu, den korrupten Maluf zu killen.«
Selbst wenn er das täte, blieben viele unversöhnlich. Der Chef von São Paulos Staatsorchester hat gerade einen französischen Pianisten für Ravels »D-Dur-Klavierkonzert« engagiert. »Dabei habe ich genau das eingespielt«, sagt Martins so, dass es möglichst viele hören können. Es ist für die linke Hand geschrieben, sozusagen ein Martins-Konzert.
Bitter und beseelt neigt er sein Haupt in die Empörung der Runde, wie einer dieser Märtyrer auf den Bildern von El Greco, die er so liebt. Dann nimmt er einen Schluck Champagner und sagt: »Dafür spiele ich das Ravel-Konzert zum französischen Nationalfeiertag auf den Champs-Élysées.« Das sitzt. Brasilianer sind stolz auf Erfolge der Ihren im Ausland. Einige Wochen darauf ist er in Leipzig, später spielt er in Peking, dann in New York.
Martins, der alte Champ, hat sich international wieder nach oben gekämpft. Nur gewisse Provinzler aus São Paulo sehen das nicht. Sie behindern ihn. Was wiederum eine Dame im lachsfarbenen Chanel-Jäckchen »skandalös« findet, allein deswegen um deutlich zu machen, dass sie nicht zu denen gehört. Kurz nach Mitternacht ist der Maestro froh, dass er die Party verlassen kann. Er hat seinen Auftritt gehabt, und er ist zufrieden mit sich. »Das war eine Fantasia Chromatica, und ich habe nicht gepatzt.«
Carmen schiebt sich im Schrittempo durch São Paulos ewigen Stau, und im Jardins-Viertel legen die beiden einen Zwischenstopp in ihrer Lieblings-Eisdiele ein. Fünf leere Tische, gefliester Boden, 50 Eissorten – und Stille. »Ist das nicht schön?«, sagt er. Dann spricht er über den wichtigsten Menschen in seinem Leben. Seinen Vater.
Der Vater ist der Schlüssel zu Martins, dem Comeback-Künstler. Tatsächlich müsste ein Film über den Pianisten mit einer großen, elegischen Rückblende zu seinem Vater beginnen: Die Jahreszahl 1908, ein Junge im portugiesischen Braga, barfuß, lehnt vor dem Fenster eines Klavierlehrers. Jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit bleibt er dort für ein paar Minuten stehen. Eines Tages fasst er sich ein Herz, und tatsächlich, der Lehrer verspricht ihm eine Übungsstunde. Glücklich geht der Junge zur Arbeit, und er träumt von der Virtuosen-Karriere, die vor ihm liegt, und er schläft ein an der Maschine.
»Dabei geriet seine rechte Hand in die Druckerpresse, und er verlor einen Finger«, sagt Martins. Er nickt in die leere Eisdiele hinein, als bekräftige er einen Familienfluch. Die Klavier-Karriere seines Vaters endete, bevor sie begann – mit einer Verstümmelung! Doch er, João Carlos, hat den Traum seines Vaters weitergelebt, der zuzeiten durchaus wie ein mörderischer Marschbefehl aussah. Doch es war dieser Marschbefehl, der ihn dann immer wieder gerettet hat in der Niederlage. Der ihn vor Selbstmitleid und Mittelmäßigkeit bewahrt hat. »Nichts ist unmöglich, das war sein Motto.«
Sein Vater. Mit 86, und »ein wenig eifersüchtig« auf die Erfolge seiner Söhne, schrieb er sein erstes Buch und kam prompt, als ältester Buchdebütant der Welt, ins Guinness-Buch der Rekorde. Sein letztes war eine Sammlung von Weisheitslehren und eigenen Lektüre-Erlebnissen, von Buddha über Jesus bis Schopenhauer und Charlie Chaplin, stets auf der Suche nach dem Geheimnis des Lebens.
Wie er starb? In Martins’ Lächeln liegt eine Art Staunen: »Er rutschte auf einer Bananenschale aus.« Im Alter von 102. Was für eine Schlusspointe!
»Er hat Zettel verteilt, für seine Buchpremiere. Er wollte mehr Besucher, als ich sie auf meiner hatte. Er
Weitere Kostenlose Bücher