Das katholische Abenteuer - eine Provokation
»Ich habe den größten Fehler meines Lebens
gemacht.« Selbst die Klageabweisung durch den Obersten Gerichtshof nützt ihm nichts, Martins ist sozial verbrannt. Er wird nach ganz unten durchgereicht.
Nun gibt es sogar Kritiker, die behaupten, dass er auch als Pianist nichts getaugt habe. Als sein Vater das liest, steigt er für seinen Sohn in den Ring. João Carlos, so erklärt er in den großen Tageszeitungen, sei ein großer Künstler und daran änderten auch politische Fehltritte nichts.
»Damals war er bereits 92«, sagt João Carlos. »Ich fuhr zu ihm nach Hause und schwor ihm auf den Knien, dass ich mir den Respekt meiner Umwelt wieder erspielen werde.« Wem fällt da nicht das Gleichnis vom verlorenen Sohn ein? Der Vater nimmt ihm das Versprechen ab, zurückzukehren zur Musik, zum klingenden Gottesdienst und zum Glauben, den der Vater, ein frommer portugiesischer Bauernsohn, sein Leben lang für das Wichtigste hält. Martins flüchtet zurück zu Bach, in diese Gegenwelt, in der er instinktsicherer ist und in der er sich auskennt. Wieder schuftet er und bringt sich in Form. Und dann kann die Arbeit an der großen Bach-Edition wieder aufgenommen werden. Nun, Mitte der Neunziger, musiziert er mit dem Sinfonieorchester in Sofia. Er spielt die »Englischen Suiten« ein, die »Brandenburgischen Konzerte«, und er ist gut wie nie zuvor. Sein Klavierspiel singt in diesem Holzsaal. Produzent Heiner Stadler ist glücklich, die Bach-Edition steht kurz vor der Vollendung.
Doch es ist, als müsse Martins vorher noch Sünden abbüßen. Es folgt ein neuer Schlag auf seinen absurden Opfergang: Am Abend des 22. Mai 1993, nach erschöpfenden Proben am »5. Brandenburgischen Konzert«, wird João Carlos Martins auf dem Weg zum Hotel in Sofia überfallen. Zwei Halbstarke schlagen ihn mit einem Eisenrohr nieder. »Es regnete«, sagt Martins, »ich lag einige Stunden bewusstlos in der Gosse.«
Er schüttelt den Kopf in stiller Verwunderung, als ob er sagen wollte: »Oh Gott, warum?«
Der Schlag beschädigt Martins Gehirn und ausgerechnet jene Zellen, die die Bewegung seines rechten Arms koordinieren.
Nun beginnt erneut ein unglaubliches Pensum, einige Schraubendrehungen härter als bei den Comebacks davor. »Bei uns zu Hause galt, dass es das Wort ›unmöglich‹ nur für Ignoranten gibt – und ich bin kein Ignorant.«
Ein Jahr lang lernt Martins im Jackson Memorial Hospital in Florida erneut, Klavier zu spielen. Er ist bepflastert mit Sensoren und schafft es, sein Gehirn neu zu programmieren.
Noch nie, sagt der behandelnde Arzt Bernard Brucker später, habe er einen so fleißigen Patienten erlebt. »Er hat zehn Stunden am Tag gearbeitet.«
Nach einem Jahr haben die Zellen seines Sprachzentrums offenbar begriffen, dass sie nun auch für die »Toccata in f-moll« zuständig sind. Doch die Reprogrammierung hat ihren Preis. Sie bedeutet, dass er seine Hand bewegen muss, wenn er spricht. »Das verursachte auf die Dauer unmenschliche Schmerzen.« Oft bricht João Carlos in der Folgezeit Gespräche ab, tränenüberströmt. Nach jedem Auftritt braucht er zwei Tage absoluter Stille. Doch er schafft den Bach, den kompletten, den er 1997 mit den »Fantasias und Toccatas« abschließt: 19 CDs, eine veritable kleine Kommode.
Einer seiner letzten zweihändigen Auftritte ist gefilmt worden. Da ist der Mittelfinger bereits nutzlos geworden und hochgebunden in die Handfläche wie das Bein eines kranken Tiers. João Carlos spielt Mozart und Haydn. Mit neun Fingern. »Ich habe sämtliche Fingersätze geändert«, sagt er, während er die Aufnahme vorführt. Schon damals hat er der linken Hand beigebracht, Passagen mit zu übernehmen, die normalerweise von der Rechten gespielt werden. Was für ein Opfer-Wille, und was für eine Lust, ihn zu demonstrieren.
João Carlos Martins, das sind offenbar mehrere: der Künstler, der Philanthrop, der Favela-Kindern kostenlosen Unterricht gibt, der politische Zocker, der sich verrennt, und der gottesfürchtige Musiker, der gelernt hat, dass er hinnehmen muss, was er nicht ändern kann. Aber auch derjenige, der den Mut hat, zu ändern, was sich ändern lässt. Offenbar hat er lange genug in
der sozialen Hölle geschmort. Obwohl der alte Skandal gerade wieder aufgerührt wurde, wird er wieder eingeladen. Er zeigt es ihnen. An diesem Abend geht es zu einem weißen Bungalow in São Paulos Edelviertel Alto da Lapa. Fackeln und E-Gitarre und französisches Büfett. Der Justizminister aus Brasilia ist
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