Das katholische Abenteuer - eine Provokation
Alis Sieg über Foreman.
João Carlos Martins ist wieder oben. Und hier, ganz oben, nimmt er das gigantische Projekt in Angriff, sämtliche Klavierwerke Bachs einzuspielen. Zur Ehre Gottes, sicher, aber auch ein wenig zur Pflege des eigenen Ruhmes. Und da gibt es diesen Deutschen in New York, Heiner Stadler, der ihm dabei helfen könnte, ein Produzent, der durch Dave Brubeck auf Martins aufmerksam geworden war. »Als ich ihn Bach spielen hörte,
ging es mir wie Brubeck – ich musste mit den Fingern schnippen«, erinnert sich Stadler. Er will Bach von Martins. Insgesamt 19 Stunden und 28 Minuten. Das alles »Zur Ehre Gottes«, wie Bach es verlangt, aber auch »zur Recreation des eigenen Gemüthes«, wie es das Barockgenie, der fünfte Evangelist, durchaus konzediert.
Die »Sechs Partiten« werden im Pomona-College in Kalifornien aufgenommen, und Martins ist in der Form seines Lebens. Die Kritiker rühmen, und sie verreißen, doch eines schreibt niemand: dass dieser Bach langweilig wäre. Zehn CDs entstehen so, unter ihnen die »Goldberg-Variationen« und die beiden Bücher des »Wohltemperierten Klaviers«, und die New York Times schwärmt: »Er zündet Feuerwerke in alle Richtungen. « Martins’ Bach ist von der besonderen Art. Die Pausen sind länger, die Läufe sind schneller, er kann 21 Töne pro Sekunde anschlagen. Er schiebt die Harmonien ineinander mit seinem Pedal und dickt die Töne an mit seiner »Karatetechnik«. Und sie wirkt. Leonard Bernstein sagte ihm auf einer Party, dass sich sein Klavierspiel anhöre wie ein ganzes Orchester.
Stilistisch ist Martins ein Outlaw, von geradezu verbotener Leidenschaftlichkeit. Sein Bach ist romantisch wie Chopin und frivol wie Samba. Für ihn ist Bach alles, er ist fromm und leidenschaftlich und Zwölftonmusik wie diese letzte Fuge im ersten Buch des »Wohltemperierten Klaviers«. »Wenn ich Bach spiele, will ich, dass es der Fabrikarbeiter mag, und der Purist soll sagen: ›Es ist falsch, aber schön.‹« Und es ist schön.
In seinem Apartment hoch über São Paulos infernalischem Straßenlärm bittet Martins seine Frau Carmen, die Sarabande aus der »Fünften Französischen Suite« aufzulegen, und plötzlich erklingt eine Musik, die unermesslich traurig ist. Das ist wohl das Vertrackte an der Kunst. Man fühlt mit, und dann muss man plötzlich an die Fabriziertheit dieses Gefühls denken, und nie weiß man bei Künstlern, was ernst ist und was nur gespielt. Der Meister stützt das Gesicht in die Hände, er ist gramgebeugt, hier oben in seinem Penthouse in São Paulo,
mit dem Whirlpool auf dem Dach. Dann seufzt er: »Das hat er geschrieben nach dem Tode eines seiner Söhne.«
Man hört das zarte Piano und könnte mitheulen noch fast 300 Jahre später, so innig und wahr ist die Liebe des Vaters zu spüren, so deutlich enthält die Musik den Schmerz des Verlusts. Oder ist es nur João Carlos Martins, der es ihm eingehaucht hat? Woran mag er in diesem Moment denken? An die Kamera des Fotografen oder an den Tod seiner Eltern? Und: Geht es uns etwas an?
»Damals, als ich es eingespielt habe, ging meine zweite Ehe in die Brüche«, sagt Martins. »Die Schmerzen in der Hand hatten zugenommen.« Und vielleicht spürte er in dieser Sarabande, dass sich eine nächste Krise in seinem Leben vorbereitete, eine Art schwermütige Vorahnung seines nächsten Knockouts.
Es war Mitte der 80er Jahre, als er wieder zu Boden ging. Zunächst körperlich: Während eines Konzerts in Berlin erleidet er einen Blinddarmdurchbruch. Er bringt es dennoch zu Ende und fällt später für zwei Monate im Elisabeth-Krankenhaus ins Koma.
Doch schlimmer ist das moralische K.O., das sich in dieser Zeit anbahnt. Zuerst die Abkehr von der Bibel, von Gott und seinem klingenden Evangelisten: Martins macht Bach zur zweitrangigen Sache. Er kappt seine spirituelle Wurzel. Er gründet eine Baufirma und geht 1990 in die Politik. Man muss sich das vorstellen wie auf einem dieser katholischen Katechismusbildchen: links der schmale Weg zum Himmel und zu Bach und rechts die bequeme, breite Straße in den politischen Sumpf Brasiliens, in die Hölle. Und Martins nimmt die falsche Abzweigung.
Martins lässt sich auf den korrupten Bürgermeister-Kandidaten Maluf ein. Für ihn sammelt er Wahlkampfgelder. Der revanchiert sich später bei seinen Gönnern. Politik eben, in Brasilien und anderswo. Immerhin kann Martins beweisen, dass er sich nicht bereichert hat. »Ich hätte ins Gefängnis kommen können«, sagt er.
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