Das katholische Abenteuer - eine Provokation
Staat werde? Oder dass einer Umfrage des Pew Research Center zu Folge eine Mehrheit der Ägypter die Steinigung bei Ehebruch befürwortet und das Handabhacken bei Diebstahl sowie die Todesstrafe für diejenigen, die vom Islam zu einer anderen Konfession konvertieren? Und das war vor Mubaraks Sturz!
Die Demokratie kam nach Gaza – und die Hamas gewann die Wahl. Die Demokratie kam nach Marokko – und die fundamentalistische PJD steht kurz vor der Mehrheit im Parlament. In Bahrain kämpft eine fundamentalistische sunnitische Regierungsclique gegen eine nicht minder fundamentalistische schiitische Bevölkerungsmehrheit um ihr Überleben. Und in Pakistan wird ein christlicher Politiker erschossen, weil er gegen ein islamistisches Gesetz votierte, das die Todesstrafe für Gotteslästerung vorsah.
Niemand kann sich wünschen, dass die Flamme der Freiheit wieder ausgetreten wird, weder von einem westlich orientierten Operetten-Diktator, noch von einer Clique düsterer Mullahs. Beide Möglichkeiten müssen im Auge behalten werden, ganz ohne Panikmache.
Zwischenbilanz: Heiße und kalte Religion
Gespräch mit dem Philosophen und Schriftsteller Rüdiger Safranski über Christentum, Islam und den Kulturkanon des Katholizismus
MATUSSEK: Sie haben einen Essay mit dem Titel »Gott ist nicht tot« geschrieben. Ein Einspruch gegen Nietzsche. Was hat Sie dazu veranlasst?
SAFRANSKI: Weil die Position »Gott ist tot«, so wie sie heute zu hören ist, eine besonders primitive Religion ist. Es gibt so eine Art von Atheismus, der ist einfach nur flach. Bei Nietzsche war es so gemeint, dass er den Horizont öffnen wollte. Er hatte das Gefühl, er müsse wieder Raum schaffen mit dieser Todeserklärung. Aber unser geistiges Problem heute ist ja, dass wir umstellt sind von Naturalismus, von Reduktionismus, immer nach diesem Motto: »Das ist ja nichts anderes als …«
Das Denken, der Geist, das gilt heutzutage gewissermaßen als nichts anderes, als wenn das Gehirn schwitzt. Eine rein physiologische Angelegenheit. Und immer wieder dieses Insistieren auf Natur, diese Dauerverkündigung eines vulgarisierten Darwinismus. Kurzum, es hat sich die Wertung verdreht. Heute ist der Atheismus eng geworden, dogmatisch, fantasielos. Deswegen muss man jetzt sagen: Gott ist nicht tot.
MATUSSEK: Nietzsche war Pfarrersohn. Er selber hat Theologie studiert. Er wusste, wovon er sprach. Schwang in seinem Ausruf vielleicht auch Trauer mit?
SAFRANSKI: Bei Nietzsche steckt in dieser Formel, was heute auch nicht mehr gegeben ist, ein kühner Mut, ein Heroismus. Er sagt: »Ich versuche jetzt, erwachsen zu sein.« Die unterschwellige Gefühlsnote ist: »Seht her, wie kühn ich bin, ich steh im Freien, ich will mir Platz schaffen.« Dann sicher auch Trauer. Es war ja schön, solange sich dieser Sinnhimmel über
allem gewölbt hat, und jetzt, das ist die neue Lage, stehen wir gewissermaßen in der kalten Nacht . . . Es ist eine Mischung aus Elegie, Mut, Freiheitsdrang, all diese Töne mengten sich in diesen Ausruf, und die hört man heute bei der Floskel »Gott ist tot« überhaupt nicht mehr. Und das macht den Unterschied.
MATUSSEK: Also hat nur die umgedrehte Nietzsche-Formel heute Sprengkraft. »Gott ist nicht tot« ist das Kühnste, was sich sagen lässt.
SAFRANSKI: Er ist einfach auch deshalb nicht tot, weil die Hälfte dieser Aussage ja noch ein anderes Urteil fällt. Sie sagt, dass wir mit unseren Wissensformen im Nebel herumstochern und nur so tun, als wüssten wir alles. Und diese angemaßte Dummheit, diese stickige materialistisch-naturalistische Atmosphäre muss gelichtet werden, und das tut man, indem man sagt: Nein, Gott ist nicht tot. Wir wissen dann zwar nicht, was und wer er ist, und wie und was, aber den Horizont lassen wir uns dann bitte schön nicht nehmen. Ich habe in meinem Buch über Das Böse im Augustinus-Kapitel geschrieben: Bitte keinen Transzendenzverrat begehen! Also nicht eindimensional werden. Darum geht es. Man muss öffnen. Unsere geistige Existenz ist etwas, das kann viel Geräumigkeit vertragen. Ob etwas eng ist oder geräumig, das sollte unser leitendes Kriterium sein.
MATUSSEK: Welche Rolle spielt Moral? Kommen wir ohne Sündenbewusstsein aus? Für Augustinus ist die Sünde ganz einfach die Abkehr von Gott.
SAFRANSKI: Letztlich das, aber weil es auch eine Abkehr von dir selber ist, und zwar von dem besseren Teil von dir, und das ist schon eine sehr hochgesinnte Art, über den Menschen nachzudenken. Den
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