Das katholische Abenteuer - eine Provokation
Pietisten so erlebt.
MATUSSEK: Ein unglaubliches Versprechen.
SAFRANSKI: Unglaublich. Da spielt Glaube eine ganz große Rolle. Die erlösende Wirkung ist nicht etwas, was man zu einem späteren Zeitpunkt erwartet, sondern es lösen sich schon jetzt in dir alle möglichen Fesseln. Das ist dann auch die buddhistische Befreiung, das haben wir nicht nur im Christentum. Das ist existentiell gesehen eine hochheiße Angelegenheit.
MATUSSEK: Die Anhänger der Wiedertäuferbewegung dachten, das Ende ist nah in Münster, damals, und haben einen achtjährigen König gewählt, sie sind übereinander hergefallen, haben gehurt, wie man damals sagte, und gevöllt, noch mal die Sau rausgelassen.
SAFRANSKI: Aber der neue Mensch kommt nicht von alleine, sondern nur im Akt der Bekehrung. Wenn man diesen Akt von außen ansieht, psychologisch, ist es was ganz Ungeheuerliches. Und zeigt übrigens die polymorphe Gestalt des Menschen, der sich jetzt mit dieser religiösen Vorgabe umstülpen kann und auf einmal neue Daseinsgefühle entwickelt, neue Stimmungen, neue Sichtweisen, alles neu. Wovon die Literatur nur träumt. Die Literatur ist ja nur eine Spielwiese für diese Bedürfnisse, während der religiöse Mensch, der bekehrte Mensch sagt, ihr in der Literatur spielt ja nur, aber ich hab’s erfahren, ich hab mich umgedreht, und zwar war das genau
vorgestern, und seit vorgestern bin ich ganz anders. Und da merkt man, dass in der Religion eine unglaubliche Kraft steckt. Der bekehrte Mensch wird nicht sagen, ich habe mich bekehrt, sondern Gott ist in mein Leben getreten, er wird das passivisch formulieren, er hat eine neue Kraft bekommen, aber es bleibt unklar, ob er sie sich selbst gegeben hat oder ob er sie bekommen hat. In diesem Zwielicht bleibt das. Auf jeden Fall aber hat er neue Kraft.
MATUSSEK: Wie geht man mit dem religiösen Gefühl praktisch um? Kann das inkorporiert werden? Nietzsche schlägt dieses Zweikammersystem vor: in der einen die Wissenschaft, in der anderen die Nichtwissenschaft. Mit Einseitigkeiten und Leidenschaften muss geheizt werden, mit Hilfe der erkennenden Wissenschaften den bösartigen Folgen einer Überheizung vorgebeugt werden.
SAFRANSKI: Für mich war Nietzsches Zweikammersystem immer plausibel. Die Notwendigkeit dieses Denkbildes besteht ja deswegen, weil wir bei aller auch positiven Hitze bedenken müssen: Wie gestaltet sich das Zusammenleben? Vor allen Dingen mit den anderen, die diese heiße Erfahrung nicht gemacht haben? Wie ist das zu bewerkstelligen, ohne dass ich jetzt mit meinem intensiven Gebrauch der Freiheit in diesem transzendenten Sinn andere beschädige? Und in diesem Moment, wo man sich mit dem Problem der Pluralität unter den Menschen beschäftigt, wird Nietzsches Modell wichtig.
An der Schnittstelle zwischen innerer Selbsterhitzung und der Konfrontation mit der Pluralität, da musst du was finden. Es gab ja immer wieder die Versuchung, diesen Raum homogen zu machen. Ihn gleichmäßig so zu erhitzen, wie ich schon bin. MATUSSEK: Oder umgekehrt, eben alles runterregeln und kälter und nüchterner machen.
SAFRANSKI: Genau, auch umgekehrt. Also weder einen Terror der bloßen Vernünftigkeit noch einen Terror des Religiösen. Und da ist das Zweikammersystem schon eine geniale Konstruktion. Aber es kommt natürlich auch eine gewaltige
Gespaltenheit in die Seele. Man muss gewissermaßen mit zwei Köpfen denken.
MATUSSEK: Das führt dann zu einer ironischen Existenz, einer der doppelten Böden und Spiegelungen. Wobei ich glaube, dass die Katholiken eine höhere Begabung zu dieser Form von Ironie und Spiegelung haben als die Protestanten. Bekannt ist der Ausspruch von Charles Maurras: »Ich bin Atheist, aber ich bin natürlich Katholik.« Ist meine Annahme richtig? Sie sind teilweise unter Pietisten aufgewachsen.
SAFRANSKI: Ja, das kam von meiner Großmutter, mit den Quertreibereien meines Vaters, der Heide war. Insofern hatte ich das Glück, die beiden Optionen immer direkt vor mir zu haben. Und dann auch altersmäßig und vielleicht auch vom Temperament her die beiden Optionen so vor mir gehabt zu haben, dass sie von mir nicht als zerreißend empfunden wurden. Meine Schwester, die anderthalb Jahre älter ist, für die war das eher ein Problem, in diesen beiden Sphären zu sein. Bei mir hat es sich nicht als Problem dargestellt, sondern als Freiheitsmöglichkeit.
MATUSSEK: Sie fanden es spannend.
SAFRANSKI: Ich fand es spannend. Ich habe weder unter dem einen Milieu gelitten noch unter
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