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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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das vor uns fließt, und es sind immer dieselben Schiffe, die auf dem Rhein auf und ab fahren. Ich erzähle Mama, dass ich gerne einmal selbst so ein Schiff fahren würde, aber nicht
weit, also nicht bis Australien, sondern nur auf dem Rhein, hin und her. Und Mama antwortet …

    – Und Mama antwortet, sagt Paula, dass Du am Steuer stehst und losfährst und dass die Abenteuer auf dem Rhein jetzt beginnen …

    – Und dann beginnen die Abenteuer auf dem Rhein, Abenteuer 1, Abenteuer 2 – und ich erzähle sie alle Mama, und Mama hört zu, und später schreiben wir meine Abenteuer in Kurzform in ein Schulheft. Ein paarmal im Jahr fahren wir auch in einer Gondelbahn über den Rhein, Mama und ich – und wir haben dann Angst, dass die Bahn über dem Rhein stehen bleibt, deshalb muss ich gut aufpassen und die Bahn lenken, denn ich bin der Kapitän und ein Pilot, und ich mache alles sehr ordentlich, und wenn wir landen, sagt Mama, dass ich es wirklich sehr ordentlich gemacht habe, das Fliegen und Landen.

    Später habe ich meine Geschichten auch dem Herrn Jesus erzählt. Ich habe sie ihm erzählt, wenn ich mich in der Kirche gelangweilt habe, so etwas kam vor, und das Schönste war, dass der Herr Jesus mich immer genau gefragt hat, nach allen Details hat er gefragt, alles wollte er es ganz genau wissen, und ich war sehr froh, dass ihn das alles so interessierte. Manchmal bin ich auch mitten am Tag, ohne dass es einen Gottesdienst gab, zu ihm in eine Kirche gegangen und habe mich hingesetzt und gesagt: Also da bin ich wieder. – Wie schön, dass Du mich wieder besuchst. Was erzählst Du mir heute? – Was möchtest Du denn hören? – Wie war es gestern beim Weitsprung, Du hast doch Weitsprung trainiert …

    Der Herr Jesus wusste einfach alles, nichts blieb vor ihm geheim, und ich habe manchmal gedacht, dass, wenn nichts vor ihm geheim bleibt, auch die Taten meiner vier Brüder nicht geheim blieben. Ich habe ihn aber deswegen niemals etwas gefragt, denn es war ja verboten, von meinen Brüdern zu sprechen, und ich hatte furchtbare Angst, dass sie mich schwer bestrafen würden, wenn der Herr Jesus sie für ihre Taten bestraft hätte. Deshalb kamen die Taten meiner Brüder, wenn ich dem Herrn Jesus erzählte, nicht vor, genauso wenig wie in den Erzählungen für meine Eltern.

    Ich habe dem Herrn Jesus aber einmal gesagt, dass ich sehr erstaunt sei, was er alles wisse, und dann hat er gesagt, dass er vielleicht nicht alles wisse, aber eben doch viel. Und ich habe gesagt, dass es schwer sein müsse, das alles herauszubekommen, und der Herr Jesus hat geantwortet, dass es leicht sei, vieles über die Menschen herauszubekommen. Man müsse sich einfach nur sehr genau in sie hineinversetzen und überlegen, was sie aus welchen Gründen so tun. Und das habe ich dann auch immer wieder versucht, und ich habe mit meinen vier Brüdern und den lieben Eltern begonnen. Und da habe ich herausbekommen, was sie aus welchen Gründen so tun, und ich wusste von da an manchmal genau, was sie als Nächstes sagen oder tun werden. Das hat mir sehr geholfen, denn nun konnte ich mich auf sie einstellen und wusste genau, was sie als Nächstes vorhatten und wo sie mir auflauern würden und wo sie sich herumtrieben. Ich bin ihnen einfach zuvorgekommen, und ich habe von da an vieles »geahnt«, und die anderen um mich herum haben dann irgendwann auch bemerkt, dass ich vieles ahnte, und Papa hat gesagt: Der Junge ahnt vieles, was uns verborgen ist, ich weiß auch nicht, wie er das macht.

    Ich habe dann auch die anderen Menschen genauer beobachtet, meine Mitschüler, die Menschen auf den Straßen und in den Geschäften. Nach einer Weile wusste ich auch bei ihnen ziemlich genau, was sie zu mir sagen würden und wie sie das meinten, und ich habe in meine Schulhefte alles geschrieben, was ich von ihnen wusste. Papa hat eines meiner Schulhefte dann einmal seinem Bruder gezeigt, als der bei uns zu Besuch war. Der Bruder hat sich mein Heft angeschaut und gesagt, der Junge sei ja bereits ein richtiger Ethnologe, das habe ich mir gemerkt, und dann habe ich in vielen Lexika nachgeschaut, was Ethnologie ist, und habe begonnen, ethnologische Bücher zu lesen.

    Ich liege auf der weiß gestrichenen Bank im Garten des Klosters und erzähle immer weiter, Paula sagt manchmal einen Satz, so komme ich leichter voran, und ich spüre, dass sie genauso gut zuhört wie die lieben Eltern und dass ihr immer das Richtige einfällt, um mein Erzählen voranzubringen und in

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