Das Kind, Das Nicht Fragte
Sohn am Kreuz nach seinem Vater gerufen hat – was ist das? Über was denke ich nach? Ist das Theologie? Nein, es ist Korfu, es ist das Denken, das mir Korfu beschert, ohne mein Zutun: Ich denke und ahne Korfu, und Korfu gehört den griechischen Göttern oder dem griechischen Gott und nicht den umherstreunenden Menschen. Daher haben die Griechen die Riten der Gastfreundschaft erfunden: um die Götter oder den Gott zu bewirten, um sie versöhnlich zu stimmen.)
Am vorletzten Tag unseres Aufenthaltes (wir bleiben vier Nächte) erreichen wir mit dem Wagen gegen Mittag ein hoch gelegenes Kloster. Wir gehen zusammen in die Kirche, es ist dort angenehm kühl, und wir nehmen Platz und betrachten die golddunklen Wände mit den vielen Heiligenbildern. Ich bin müde und etwas unkonzentriert vom langen Schwimmen, deshalb bleibe ich noch länger sitzen, Paula hat die Kirche schon verlassen. Kurz denke ich daran, dass ich von Köln und meinen Brüdern erzählen sollte, aber ich lasse den Gedanken wie an den Tagen zuvor gleich wieder fallen. Ich kann nicht, ich mag nicht, lasst mich in Ruhe, flüstere ich vor mich hin.
Ich schließe die Augen und höre auf meinen ruhigen Atem, der Kirchenduft ist recht stark, es riecht nach Weihrauch und heruntergebranntem Wachs, und ich nehme das leise Knistern der Flammen auf den langen, dünnen Kerzen wahr, die dicht nebeneinanderstehen und leise zu schwanken scheinen. Da aber kommt etwas in mir zurück, und ich spüre es, als ich eine fremde Musik höre, es ist ein ritueller Gesang von den Mönchen des Klosters, und er kommt aus einem Gebäude direkt neben der Kirche. Er dringt durch die Ritzen der geschlossenen Fenster, als hätte sich dort nebenan eine Gruppe von Mönchen versammelt, um für mich zu singen. (Ja, ich habe wirklich dieses aberwitzige, schräge Gefühl: Sie singen und beten für Dich! Sie haben sich dort versammelt, um den griechischen Gott anzurufen, zu dem Du nicht in direktem Kontakt stehst. Du kennst den griechischen Gott nicht, Du hattest nie Kontakt mit ihm, jetzt aber hörst Du, wie die Mönche für Dich beten und dafür, dass er Dich als seinen Gast bei sich aufnimmt. )
Er nimmt mich auf, denke ich, er bietet mir eine Zuflucht. Es ist eine Zuflucht für meine Geschichten und meine Angst. Und dann beiße ich mir fest auf die Lippen und schlage mit der rechten Faust auf das rechte Knie und krümme mich in mir zusammen und würge etwas, und dann kommt es endlich aus mir heraus, endlich, nach einem Leben von fast vierzig Jahren:
– Mamma?! Hörst Du mich? Und Pappa?! Hörst Du mich auch? Die schweren Zeiten sind vorbei, ich darf nun sprechen. Wir sind wieder beisammen, wir sitzen in meinem Kinderzimmer in
Köln, Martin und die anderen drei sind nicht da, ich bin mit Euch allein, ich kann Euch endlich sagen, was mit mir passiert ist …
Ich spreche anscheinend so laut, dass Paula mich draußen hört, denn sie kommt jetzt von dort zurück in die Kirche und eilt zu mir. Sie schaut etwas entsetzt, sie versteht nicht, was ich da sage und warum ich das tue, und sie fragt, ob sie helfen könne. Ich kann aber nicht antworten, ich muss bei der Sache bleiben, und da sehe ich, dass Paula sich dicht neben mich setzt (ihre Handtasche fällt dabei mit einem dumpfen Schlag auf den Boden und bleibt dort liegen). Sie nimmt meine rechte, verschwitzte Hand und drückt sie fest, sie will mich beruhigen, aber ich werde nicht ruhig, denn der Wortstrom ist plötzlich da und bricht dann in Schüben aus mir heraus:
– Ich heiße Benjamin. Ich habe vier Brüder, die sind viel älter als ich. Sie heißen Georg, Martin, Josef und Andreas. Wir leben alle zusammen in einem Haus, das unseren Eltern gehört. Dort ist es sehr schön, aber meine Brüder spielen niemals mit mir. Ich spiele allein, und ich spiele manchmal auch Fußball, aber ich mag das Fußballspielen nicht so sehr wie die anderen Jungs, mit denen ich Fußball spiele. Die anderen Jungs spielen besser als ich, deshalb mag ich das Fußballspielen einfach nicht so, ich schaue aber gern zu, wenn es ein richtiges Fußballspiel mit richtigen Vereinen gibt.
Luft holen, sich schnäuzen, durchatmen. Und weiter! Und weiter?! Paula drückt meine Hand, und sie lehnt sich
mit ihrem Kopf jetzt auch an meine Schulter, und dann passiert es, ich höre sie etwas sagen, und sie sagt:
– Statt des Fußballspiels treibst Du einen anderen Sport, Du läufst …
Und ich mache weiter:
– Viel lieber als Fußball zu spielen, würde ich gerne
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