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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Schluck athenischen Nektars und versteht plötzlich sämtliche Sprachen, auch die der Schafe und Ziegen. Und daran hat dann auch Apoll seine Freude und verleiht einem die Kraft, Verse zu dichten, und dann dichtet man gleich alles in Versen, während man übers Land geht: Reiche mir, Mutter Athene, mehr von Deinem geliebten Trunk,/ und Du, Apoll, lass wachsen die Gaben der Dichtung in schillernden Versen aus olympischen Noten … – so in etwa.
    – Ist das jetzt von Dir?
    – Ja, das ist alles von mir. Ich verstehe ein wenig Altgriechisch, einer meiner vier Brüder ist sogar Lehrer für Altgriechisch und Latein.
    – Du hast vier Brüder? Davon hast Du noch nie gesprochen.
    – Ich habe vier Brüder, ich werde Dir noch von ihnen erzählen, aber bitte nicht jetzt, sondern später. Die Erinnerung an sie verdirbt mir die griechische Stimmung.
    – O weh, ich ahne Schlimmes.
    – So viel Schlimmes, wie passiert ist, kannst Du gar nicht erahnen.
    – Im Ernst?
    – Ja, leider.

    Wenn wir frühmorgens bei Sonnenaufgang erwachen, scheinen alle Hähne der Umgebung zu krähen. Wir stehen rasch auf und gehen als Erstes ins Meer. Dann frühstücken wir unter dem weißen Holzvorbau, ein paar Katzen kommen vorbei und streichen um unsere Beine, und einige Wespen stürzen sich auf den korfiotischen Honig.

    Später fahren wir mit dem Wagen in die Höhe der Berge und lassen den Wagen dann stehen und gehen bei großer Hitze einige ausgetretene und vom Wasser bis auf den steinigen Grund ausgespülte Pfade entlang. Wir gehen durch große Olivenhaine mit uralten, schweren Bäumen und erreichen gelegentlich ein einsames Gemäuer. Oder wir entdecken eine kleine Kapelle mitten auf der Spitze eines Hügels, von dem aus man in eine tiefe Küstenschlucht schaut, die kein Mensch von hier aus jemals betreten wird. Zu dieser Küstenpartie möchten wir aber, und deshalb mieten wir uns ein Boot und fahren dann langsam an den Steilküsten des Nordens entlang, um in den sonst unzugänglichen Buchten anzulegen. Wir liegen eine Weile am Strand, wir flüstern uns Geschichten zu, die wir aus dem Stegreif erfinden, und ich spüre, dass Paula darauf wartet, dass ich endlich von Köln und den Brüdern erzähle. (Es geht aber noch nicht, es geht nicht, denke ich, und allmählich befällt mich in der paradiesischen Leere der Insel ein leises Grauen.)

    Wir sehen Gärten, die sich von der Küste aus die Steilhänge hinauf bis zur Spitze der Hügel erstrecken, sie wirken wie verwunschene Zonen, denn wir sehen in ihnen keine Menschen, wie uns überhaupt nur selten Menschen begegnen, und es – anders als in Sizilien – durchaus möglich ist, auch an den lang gestreckten Stränden niemandem zu begegnen. Die Strände sind nirgends gesperrt oder nur bestimmten Besuchern vorbehalten, jede noch so heilige oder einsame Zone steht allen offen, so dass man sich nirgends beobachtet oder bewacht fühlt. Eine seltsame Freiheit entspricht einer seltenen Leere, abseits von den touristischen Streifen wirkt die Insel wie erst gerade entdeckt oder bereits lange verlassen, und die weißen Jachten legen immer wieder vorsichtig an und stoßen, kaum dass sie angelegt haben, wieder ab, als wären die Landebuchten gefährlich überhitzt oder als läge ein geheimer Fluch auf alledem.

    Es scheint etwas Tiefernstes in diesem korfiotischen Boden zu stecken, irgendwo in seinen kargen Schichten ist eine geheime Welt verborgen. Ich sage einmal so etwas in dieser Richtung, aber Paula antwortet nicht, sondern rückt nur näher heran. Wir sind am Strand, und Paula legt den Kopf auf meine Brust und schaut wartend auf das leichte Segel des Himmels, während wir das Meer hören, säuselnd und abseits. Diese Landschaft lebt ganz für sich, will ich sagen, sage es aber nicht. Sie ist nicht von Menschen berührt, sie entzieht sich. Man kann sie nicht »kultivieren«, sie schüttelt alle »Kultur« ab. Sie reduziert die »Kultur« auf Wasser, Erde und Stein, so wollen es anscheinend die griechischen Götter oder der griechische Gott. (Manchmal hören
wir in den Klöstern die Gesänge der Mönche zu Ehren des griechischen Gottes. Der griechische Gott hat Italien niemals betreten, dort wohnen der Papst und die anderen westlichen Priester, die sich als späte Jünger Jesu bezeichnen und mit ihm noch in halbwegs direktem Kontakt stehen. Der griechische Gott aber ist sich dieses halbwegs direkten Kontakts keineswegs sicher, er ist der Gottvater, der weiter nach seinem verlorenen Sohn ruft, so wie der

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